Hof - Mit seiner Mutter fuhr er zurück: ins Sudetenland. Von dort, aus Nordböhmen, war sie nach Kriegsende hierher gekommen, nicht freiwillig; sie floh. Seither hatte die alte Dame ihr Heimatdorf nahe der Elbe nicht wiedergesehen. Nun betrat sie das Haus, das sie als kleines Mädchen hatte verlassen müssen. "Heute gehört es einem Holländer", erzählt Roland Spranger, "der in dem Anwesen ein Therapieheim für gefährdete Jugendliche einrichten will." Aber der alte Ofen, zum Beispiel, steht noch darin. Er habe, erzählt der 52-jährige Schriftsteller, seine Mutter "seit Langem nicht mehr so glücklich gesehen".

Wer nach dem von Nazideutschland angezettelten und verlorenen Krieg als Flüchtling im Westen ankam, durfte beim Empfang nicht mit offenen Armen rechnen. "Als Jugendlichem", erinnert sich Spranger, "wurde mir vermittelt, allenthalben habe für die armen Vertriebenen Aufnahme- und Hilfsbereitschaft geherrscht." In Wirklichkeit hatten die Alteingesessenen mit sich selbst genug zu tun und beäugten die Zuzügler, die kaum etwas besaßen und sich notgedrungen irgendwo festsetzen mussten, meist mit misstrauischer Abneigung. "Hungerleider" wurden sie vielfach geschimpft.

"Hungerleider" nennt Roland Spranger sein neues Theaterstück. Ob der Titel nur einen armen Schlucker oder mehrere meint, bleibt offen. Geschrieben hat er den Text, mit dessen Studioproduktion das Theater Hof vor Kurzem die dritte - sehr erfolgreiche - Uraufführung in der laufenden Spielzeit präsentierte, als Auftragsarbeit. Mit der Intendanz kam der als Dramatiker wie als Erzähler erfahrene Schriftsteller im Jahr 2013 überein, einen Stoff passend zum Spielzeit-Leitmotiv "Patrioten, Flüchtlinge, Vaterlandsverräter" zu erarbeiten. Im April stellte er dem Bühnenchef Reinhardt Friese und dessen Dramaturgen Thomas Schindler eine erste Fassung vor. Damals stand Antje Hochholdinger, Hofer Theaterpreisträgerin von 2014, als Regisseurin schon fest. Eine überarbeitete Schlussversion reichte Spranger im Herbst ein: eine Studioproduktion, "aber kein Kleinformat", freut sich der Autor.

Freilich, aus eigener Anschauung kennt er die sprichwörtlich schwere Zeit, zum Glück, nicht. Darum las und recherchierte er ausgiebig über sie und forschte in der eigenen Familiengeschichte. Sie fand er beschlossen in den Erzählungen der Mutter und der Großeltern, bei denen er zeitweilig aufwuchs. Noch anschaulicher dokumentierte sie ein Karton voller alter Fotos.

Nicht zuletzt besann er sich auf die Rolle Hofs als Flüchtlingsumschlagplatz. "Das Lager in Moschendorf", weiß Spranger, "war das größte in ganz Süddeutschland." Aber er erzählt keine Flüchtlingsgeschichte (wie's etwa Walter Kempowski in seinem erschütternden letzten Roman "Alles umsonst" von 2006 unternahm). Der - von Kitsch entstellten, vermeintlich verjährten, angesichts weltweiter Flüchtlingsströme in Wahrheit hochaktuellen - Idee "Heimat" wendet sich der Hofer Autor aus der Sicht der Nachgeborenen zu.

In seinem Schauspiel "kann eine Backfisch-Tochter sich mit dem Heimat-Begriff ihrer Flüchtlingseltern nicht identifizieren", fasst er die Handlung zusammen. Das Mädchen weiß seinen angestammten Ort dort, wo es jetzt lebt, in seiner Gegenwart - im Wirtschaftswunderland "zwischen US-Kino und dem rebellischen Rock 'n' Roll aus Übersee". Den Jungen, in den sie sich verliebt, halten ihre Eltern für einen "Halbstarken", was naturgemäß zu Spannungen führt. Auch durch die Sprache, betont Spranger, führe in seinem Stück der Riss zwischen den Generationen: "Schon unter den Flüchtlingen, mit ihren stark unterschiedlichen Dialekten, herrschte eine babylonische Verwirrung der Zungenschläge", sagt Spranger. "Zusätzlich brachte meine Mutter aus der Schule noch breitestes Oberkotzauerisch nach Haus."

Ein Karton voller ungeordneter Fotos: Auch im Stück steht er am Anfang. Gleichsam diffus, jedenfalls nicht chronologisch reihen sich dementsprechend die Szenen aneinander, nicht als in sich geschlossene Folge. Spranger, als Filmfan, arbeitete mit "Sprüngen, Brüchen, harten Schnitten" und verspricht den Zuschauern "kurze Sätze, knappe Dialoge. Rhythmus ist wichtig." Ebenso sparsam hat er die Regisseurin und die Schauspieler bedient: Nur wenige Anweisungen gibt er als Autor vor und versteht seinen Text als "Angebot" an die Künstler, sich "die eigentliche Geschichte selbst zu erarbeiten".

An der Grenze spielt das Stück, in der Epoche des Eisernen Vorhangs. Also ein oberfränkisches Regional-Melodram? "Keineswegs", versichert der Schriftsteller, der hofft, dass "Hungerleider" an anderen Häusern nachgespielt wird. "Das Thema interessiert und funktioniert in Gelsenkirchen ganz genauso."

Mir wurde vermittelt, es habe überall Hilfsbereitschaft Geherrscht.
Kurze Sätze, knappe Dialoge. Rhythmus ist wichtig.

Roland Spranger

280 Romane in einem einzigen Jahr

Roland Spranger, 1963 in Oberkotzau bei Hof geboren, lebt mit seiner Familie in Hof. Mit etwa einem Dutzend Theaterstücken trat er hervor und schrieb die Romane "Thrax", "Elementarschaden" und den Thriller "Kriegsgebiete", für den ihm die Kriminalautorenvereinigung "Syndikat" im Jahr 2013 den begehrten Friedrich-Glauser-Preis verlieh. Darum auch gehörte er zu der Jury, die über den Preisträger für 2014 entschied: Im vergangenen Jahr begutachtete Spranger dafür nicht weniger als 280 von Verlagen eingereichte Romane.