Coburg - "Eigentlich ist das ganze Buch ein Fehler." Ein kurioser Satz aus dem Munde einer Autorin, der dieser "Fehler" gerade einen der begehrtesten deutschen Literaturpreise eingetragen hat. Koketterie? Understatement? Übermut? Nichts scheint Katja Petrowskaja ferner zu liegen. Die 44-Jährige wirkt eher wie eine staunend teilnehmende Beobachterin des eigenen Erfolgs, die das plötzliche Aufhebens um ihr Werk und ihre Person mit Irritation verfolgt, und die sich den Spielregeln des Literaturbetriebs nicht so einfach unterwirft. Ihr Terminkalender füllt sich dennoch, seit sich zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 die Nominierung zum Deutschen Buchpreis gesellte - und vor kaum drei Wochen nun auch noch der "aspekte"-Literaturpreis.

Der Coburg-Besuch war da freilich schon lange gebucht: Der hiesige Literaturkreis war beizeiten auf das außerordentliche Debüt der deutsch-ukrainischen Autorin aufmerksam geworden und hatte sie für den Herbst eingeladen. Linde Kunstmann, die rührige Vorsitzende des Vereins, hatte die Lesung arrangiert - doch sie konnte sie nicht mehr moderieren: Am 3. Oktober ist sie im Alter von 67 Jahren gestorben.

In ihrem Sinne hielten die Literaturfreunde an dem Termin fest, und so war es am zweiten Vorsitzenden Alois Schnitzer, Publikum und Publizistin am Mittwoch im vollen Saal des Hexenturms zu begrüßen.

In ihrem Buch "Vielleicht Esther" erzählt die in Kiew geborene Katja Petrowskaja von einer Spurensuche nach den eigenen sowjetisch-russisch-jüdischen Wurzeln, von einer Reise in die vom Holocaust verwundete Familiengeschichte. Von Berlin aus macht sich die Ich-Erzählerin auf den Weg nach Warschau, nach Kiew, nach Mauthausen, um mehr über das Leben und Sterben ihrer Vorfahren zu erfahren. Das Ergebnis ist kein Familienroman, sondern eine Sammlung von Geschichten, eine episodische Rekonstruktion, literarisch verwoben aus Erinnerungen und Recherchen, die sich zu einem Panorama des 20. Jahrhunderts verdichten.

Nicht nur als Erzählerin geht Petrowskaja eigene Wege: Von konventionellen Lesungen hält sie wenig, sie sucht das Gespräch mit dem Publikum, möchte ihre Intentionen erläutern, ihr literarisches Verständnis, ihre Arbeitsweise an der aus ihrer Sicht fragwürdigen Grenze zwischen Faktizität und Fiktion, ihr Schreiben in einer Sprache, die sie sich "als
Besatzungsmacht angeeignet" hat: Deutsch lern-te Katja Petrowskaja erst als Erwach-
sene.

Aufrichtig, nachdenklich, selbstkritisch und sympathisch unbelastet von den Strategien der Selbstvermarktung spricht die Autorin auch über die Fragen, Zweifel, Grenzen, auf die sie "im Sog der Recherche" und auf der "Suche nach Haltung" stieß bei ihrem Vordringen in das Unheil des 20. Jahrhunderts. Auch aus ihrer Skepsis gegenüber Juroren-Prosa macht die Literaturwissenschaftlerin keinen Hehl: "Das hat wenig mit mir zu tun," merkt sie zu Abschnitten aus der Eloge der "aspekte"-Jury an.

Melancholie und Komik

Von der Geschichte selbst erfährt der Besucher nicht allzuviel an diesem Abend, doch er bekommt durch einige Passagen aus "Vielleicht Esther" einen Eindruck vom erzählerischen Geschick Katja Petrowskajas, von der Poesie ihrer Prosa, vom faszinierenden Sound, von ihrer eindringlichen melancholischen Tonart und ihrem trockenen Witz. Die Reise beginnt im Berlin der Gegenwart, das Zugpassagiere mit der bombastischen Werbung für "Bombardier" willkommen heißt - ein Musical. Die Irritation darüber stiftet eine Zufallsbekanntschaft mit Sam, einem amerikanischen Juden osteuropäischer Herkunft.

Gemeinsam fahren sie nach Polen - mit dem Warszawa-Express, "einem Express, der sich gegen die Zeit bewegt". Die Reise führt weiter ins Moskau des Jahres 1932, wo dem Studenten Judas Stern, einem Großonkel der Autorin, wegen eines Attentats die Farce eines Prozesses gemacht wird . Der Angeklagte reagiert mit der "Rache der Ohnmächtigen": mit Witz. Diese Art des Widerstands ist wohl "Familienstil", bemerkt Katja Petrowskaja: "Lieber ein Clown sein, als Regeln zu akzeptieren, die man nicht respektiert."

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Suhrkamp Insel 2014, 285 Seiten, 19,95

Euro , ISBN: 978-3-518-42404-9