Coburg - Welche Leichtigkeit! Ein merkwürdiges Wort über ein kolossales Buch, an dem alles mächtig scheint, ja übermächtig: das Thema, die Stofffülle, der Umfang. Auf gut 2000 Seiten erzählt Sabine Friedrich - nein: nicht die Geschichte des deutschen Widerstands. Die Geschichten von Menschen, die der NS-Tyrannei widerstanden, und dafür - fast alle - mit dem Leben bezahlten. Es gelingt ihr eindringlich, und doch mit einer literarischen Leichtigkeit, die nichts spüren lässt von den Mühen eines sechsjährigen Mammutunternehmens.

Kein weiteres Konvolut über die "Rote Kapelle", die "Weiße Rose", den "Kreisauer Kreis", den 20. Juli lag Sabine Friedrich im Sinn, als sie sich 2006 in die Recherchen stürzte und in die Lebensgeschichten der Frauen und Männer eintauchte, die - früher oder später - gegen den Strom schwammen.

Woher nahmen sie die Kraft zu tun, was Millionen Deutsche nicht wagten? Die Autorin fasst die Frage weiter, holt sie ins Jetzt: "Wie kommt das Gute in die Welt?"

Auf der Suche nach Antworten zog sie aus, die Menschen hinter den historischen Figuren zu entdecken, ihre Wurzeln und Motive, ihre Gefühle und Überzeugungen, ihre Irrtümer, Skrupel und Ängste. Um sie mit dem Leser in Berührung zu bringen, nimmt sie sich die literarische Freiheit, Fakten mit (wenig) Fiktion zu mischen und die Figuren "genau so wieder zu erfinden, wie sie gewesen sein mussten" - und gibt ihnen den Raum, den sie brauchen: 2018 Seiten.

Eindringliches Panorama

"Im Grunde habe ich mich kurzgefasst" beteuert die Schriftstellerin. Wer sich auf dieses Buch einlässt, hält das nicht lange für Koketterie. Es steht kein Satz zuviel darin, man möchte keine Station missen auf dieser langen, aufregenden Reise, die uns mit vielen aufrechten Menschen bekannt und mit einigen vertraut macht. Auf verästelten Pfaden führt uns die Autorin tief hinein in die Geschichte des 20. Jahrhunderts; sie spürt dem fiebrigen Zeitgeist der Weimarer Republik nach und hilft uns zu begreifen, wie er in die Katastrophe des Faschismus münden konnte.

Dabei sprengt "Wer wir sind" die Dimension des biografisch-historischen Romans: Indem sie die Akteure des Widerstands in ihren familiären, kulturellen und politischen Zusammenhängen porträtiert, verknüpft Sabine Friedrich mit scheinbar leichter Hand Gesellschaftspanorama, Politthriller und Familiensaga zu einem berührenden, erschütternden, fesselnden Leseabenteuer. Mit Empathie und Poesie eröffnet sie uns die Lebens- und Gedankenwelten faszinierender Menschen aus gegensätzlichen Milieus, von der Boheme bis zum Bürgertum, vom kommunistischen Untergrund bis zum aristokratischen Establishment. Auf der Suche nach ihren Prägungen blättert sie weit zurück bis in die Kindheit und Jugend, und mit dem Fokus auf ihre Rolle als Partner, Liebende, Freunde, Eltern zeigt die Schriftstellerin die enge Verquickung von privater und politischer Sphäre und konfrontiert den Leser mit den elementaren Gewissensfragen, die darüber entscheiden, "wer wir sind".

Mit erzählerischer Kraft schürt Sabine Friedrich eine Spannung, die den Leser schier vergessen lässt, dass er um den tragischen Ausgang der Geschichte weiß. Unwillkürlich fiebern wir mit den Oppositionellen, die den Nazi-Terror mit Worten und Taten bekämpfen, die Flugblätter streuen, Juden verstecken, Fluchthilfe leisten, Bündnisse schmieden, und die seit 1938 immer wieder Attentate planen, die allesamt misslingen - bis hin zum Fiasko des 20. Juli 1944.

Eine einzige chronologische Darstellung vermag die Materialfülle kaum zu bändigen - Sabine Friedrich entschied sich deshalb für zwei komplementäre Erzählungen: "Buch I" ist vornehmlich der "Roten Kapelle" um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack (und ihre Frauen), dem Widerstand im Amt Ausland / Abwehr und konsequenten Christen wie Dietrich Bonhoeffer gewidmet. Der "Kreisauer Kreis" um die Ehepaare Helmut James und Freya von Moltke und Peter und Marion Yorck von Wartenburg sowie die Attentäter des 20. Juli 1944 um Claus Schenk Graf von Stauffenberg stehen im Mittelpunkt des II. Buches.

Ihr Zaudern und ihr Scheitern wird umso unerträglicher, je weiter die Katastrophe voranschreitet: Friedrich erspart sich und uns nicht beklemmende Bilder aus den Folterkellern der Gestapo und der Hölle der Konzentrationslager. Wir erleben den Vernichtungsfeldzug gegen Russland und die Gräuel des Holocaust. Die Geschichte der Mikla Rosenberg, die eine Massenerschießung überlebt und sich gemeinsam mit verletzten Kindern aus Leichenbergen hervorkämpft, zählt zu den erschütterndsten Passagen dieses Buches.

Sarkastischer Unterton

Auf der Suche nach dem Warum antizipiert die Autorin auch Blickwinkel der Täter, schildert die Regungen gewissenloser Mörder, stumpfer Befehlsausführer und traumatisierter Soldaten, die an ihrer Schuld verzweifeln. Die inneren Monologe eines SS-Obersturmführers Maier machen Schaudern, gespenstisch mutet die bizarre Logik "intellektueller" Nationalsozialisten wie Franz Alfred Six an, oder die eitle Eiseskälte eines Roland Freisler.

Beim Blick hinter die braunen Kulissen gönnt sich Sabine Friedrich einen sarkastischen Unterton, mit galliger Ironie schildert sie Korruption und Missgunst in NS-Führungszirkeln und abstruse Possen im Dunstkreis Adolf Hitlers.

Lakonisch berichtet sie von der skandalösen Missachtung des Widerstands in der jungen Bundesrepublik, in der Altnazis Schlüsselpositionen in Justiz und Wirtschaft übernahmen - und Todesurteile gegen Hans von Dohnanyi oder Dietrich Bonhoeffer bestätigten.

Und doch klingt der Roman mit einem Signal der Hoffnung aus, wenn sich der Kreis mit einer Rückblende auf die jungen Visionäre Arvid Harnack und Mildret Fish schließt, die ihre Maxime lebten: "Einander zu lieben ist doch das Vernünftigste, was man tun kann, und auf diesem Prinzip muss alles aufbauen".

Die Autorin

Sabine Friedrich, 1958 in Coburg geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte 1989. Seit 1996 lebt sie mit ihrer Familie wieder in Coburg. Ihrem ersten Roman >Das Puppenhaus< (1997) folgten u.a. "Familiensilber" (2005) und "Immerwahr" (2007).


Die Buchpremiere

Am 11. Oktober stellt die "ARD Bühne" bei der Frankfurter Buchmesse um 12 Uhr Sabine Friedrichs neuen Roman vor. Am Abend liest die Autorin beim "Literaturbahnhof im Frankfurter Hauptbahnhof". Die offizielle Buchpremiere folgt am 17. Oktober in Berlin: Ab 20 Uhr liest die Autorin im Literaturhaus Berlin aus "Wer wir sind" und spricht mit dem Historiker Manfred Görtemaker.

Lesungen in der NP-Region stehen bislang nicht fest.


Der Roman

Sabine Friedrich: Wer wir sind

Hardcover, 2032 Seiten

ISBN 978-3-423-28003-7

dtv München, Oktober 2012

(auch als epub, PDF) , 29,90

Einblicke in Sabine Friedrichs

sechsjährige Recherche und Schreibarbeit gibt das Werkstattbuch zu "Wer wird sind", 128 Seiten, ISBN 978-3-423-21403-2, dtv, 5,90

Leseproben,. Hintergrundinformationen, Rezensionen und Videotrailer auf: www.wer-wir-sind.de