Mülheim/Ruhr - Eine Frau hat genug von der Macht der Männer, sie kauft sich eine Sexpuppe, mit der sie künftig leben will. Anne Leppers Theaterstücke sind witzig und zugleich bitterböse. Sie konfrontieren den Zuschauer mit einer harten, sprechblasenartigen Sprache. Die 1978 geborene Autorin selbst ist dagegen überaus scheu. Da verwundert es nicht, dass Lepper zunächst nicht zu erreichen war, als die Mülheimer in der Nacht zum Sonntag bei ihr anriefen, um ihr mitzuteilen, dass sie zur Dramatikerin des Jahres gekürt worden sei. "Mädchen in Not" heißt das gleichermaßen komische wie abgründige Stück, für das Lepper den mit 15 000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis 2017 erhält.

Die Jury-Debatte - das ist die Mülheimer Besonderheit - verläuft immer öffentlich und am späten Abend. Dieses Jahr war sich das fünfköpfige Gremium nach zwei Stunden Diskussion erstaunlich einig, dass die 1978 geborene Lepper den Dramatikerpreis verdient hat. Die Auszeichnung zählt zu den begehrtesten Theaterpreisen im deutschsprachigen Raum. Selbst Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die den Dramatikerpreis schon viermal eingeheimst hat, kam gegen Leppers grotesk-surreales Werk nicht an. Sie bekam eine Stimme, Lepper vier.

Lepper sei "eine wirkliche Entdeckung", sagte Jurymitglied Kathrin Röggla, Vizepräsidentin der Berliner Akademie der Künste. Die Jury zeigte sich beeindruckt von der Virtuosität, mit der Lepper auf literarische Vorbilder wie Ibsen oder E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" anspielt. Die Hauptprotagonistin "Baby" in "Mädchen in Not" wird sozusagen zur "Anti-Nora" in einem "Anti-Puppenheim". Das Motiv der Puppe als Objekt der Begierde findet sich zudem auch bei Hoffmann.

Und doch reproduziert Baby selbst die gesellschaftlichen Muster, gegen die sie aufbegehren will, und ermordet schließlich ihre Freundin Dolly. Babys Form der Auflehnung bestehe darin, willenlose Männer-Puppen beherrschen zu wollen, um mit ihnen dann so zu verfahren, wie man mit ihr verfahren sei. "Eine hochaktuelle Diganose unserer Gesellschaft, die mit Normabweichungen weit schlechter klarkommt als sie vorgibt", lobt Jury-Mitglied Cornelia Fiedler.

Lepper, die zum zweiten Mal in Mülheim nominiert war und mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde, gehört längst zu den wichtigsten Stückeschreibern in Deutschland. Sie studierte Philosophie, Literatur und Geschichte in Nordrhein-Westfalen sowie literarisches schreiben in Bern. Ihre Stücke kennen keine Satzzeichen, keinen Punkt oder Komma. "Mädchen in Not" wurde im Mai 2016 im Nationaltheater Mannheim in der Regie von Dominic Friedel uraufgeführt.

Verstörend grotesk kann Leppers Blick hinter die gesellschaftlichen Spiegel sein. In "Seymour" polemisierte Lepper witzig und böse gegen der Perfektionierungswahn der Gesellschaft. In "Mädchen in Not" lässt sie als Seitenhieb auf Populismus, Bürgerwut und Antisemitismus eine "Gesellschaft der Freunde des Verbrechens" auftreten, deren Schlachtruf "Vergewaltigen, erschießen, ausweisen" ist.

Insgesamt 142 Stücke hatte das Mülheimer Auswahlgremium gesichtet. Sieben kamen in den Wettbewerb. Dieses Jahr hatte die Jury die strengen Kriterien aufgeweicht und auch Milo Raus dokumentarisches Stück "Europa" nominiert, in dem Schauspieler aus mehreren Ländern von ihren Fluchterfahrungen sprechen. Ob Raus Stück in die Auswahl des Dramatikerpreises gehört, war in der Jury heftig umstritten. Doch das war in der Begeisterung über Lepper schnell vergessen.