25 Jahre Eschede-Katastrophe Das unfassbare ICE-Desaster

Andreas Geldner
Die Zugtrümmer von Eschede: Ein Bild, das sich eingebrannt hat. Foto: dpa/Ingo Wagner

Vor 25 Jahren entgleiste bei Eschede der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“. Die 101 Toten beim schlimmsten Unfall eines Hochgeschwindigkeitszuges weltweit werfen für die Bahn bis heute ihren Schatten.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Es war kurz nach elf Uhr am sonnigen Sommertag des 4. Juni 1998. Erste erste Meldungen sprachen von einem Zugunglück nördlich von Hannover mit wohl mehreren Toten. Doch das Desaster, das sich in einem kleinen Ort namens Eschede ereignete, sollte bald alle Dimensionen sprengen. Als die ersten Bilder eines vollkommenen zerfetzten Zuges und einer auf ihn gestürzten Brücke zu sehen waren, wurde klar, dass etwas Ungeheuerliches passiert war.

Der Aufprall um exakt 10.59 Uhr war brutal: Mit 200 Kilometern in der Stunde hatte ein entgleister Waggon einen Brückenpfeiler weggeschlagen. Neun der zwölf Wagen hatten sich zu einem unentwirrbaren Trümmerfeld zusammengeschoben. Die Wucht für die Passagiere entsprach einem Sturz aus 160 Metern Höhe.

Nur der vordere Triebkopf und zwei Zweiter-Klasse-Waggons des ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ waren unter der Brücke heil durchgekommen, ein dritter und vierter passierten die Stelle beschädigt oder kippten um. Von den 287 Passagieren in dem nur halbbesetzten Zug starben 99, dazu zwei Bahnmitarbeiter, die sich zufällig unter der Brücke befanden. 108 Menschen wurden verletzt, davon 70 schwer. Sechs Kinder, die überlebten, verloren ihre Mütter. Nur achtzig Menschen kamen äußerlich unbeschadet davon, darunter der Lokführer.

Gegenzug kam nur knapp vorbei

Nur knapp war noch ein größeres Unglück vermieden worden: Nur zwei Minuten vorher hatte ein Gegenzug die Unglücksstelle passiert. Er fuhr eine Minute vor dem Plan, der ICE 884 war eine entscheidende Minute verspätet.

Die ICE-Katastrophe sprengte vor einem Vierteljahrhundert alle Dimensionen. Es ist weiterhin das schlimmste Bahnunglück in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg und es bleibt das bisher schlimmste Desaster im Hochgeschwindigkeitsverkehr der Eisenbahnen weltweit.

Radreifen als Ursache

Ursache war ein so genannter Radreifen, dessen Belastungsgrenze falsch eingeschätzt wurde und der den Kräften im Hochgeschwindigkeitsverkehr nicht gewachsen war. Er sprang ab – und löste dann eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus, die in der Entgleisung des Zuges an einer Weiche vor der Straßenbrücke in Eschede endete.

Mit der neuartigen Konstruktion hatte die Bahn versucht, ein lästiges und unkomfortables Brummen der Waggons bei hohen Geschwindigkeiten zu vermeiden. Die Führungsetage der Deutschen Bahn unter dem bis 1997 amtierenden Bahnchef Heinz Dürr hatte sich eine rasche Lösung gewünscht.

Erschütternde Einzelschicksale

Die Geschichte von Heinrich Löwen, später Sprecher und Initiator der Opferinitiative macht an einem Beispiel begreiflich, was Eschede für Überlebende und Hinterbliebene bedeutete: Der Mann, der damals im bayerischen Vilshofen lebte, verlor bei dem Unfall seine Frau Christel (50) und seine Tochter Astrid (26) , die sich nach langem einen Urlaub in Hamburg gönnten. „Wir nehmen die Bahn, das ist sicherer“, hätten sie vor der Abfahrt gesagt, so erzählte Löwen.

Am dritten Tag nach dem Unglück bekam er die Nachricht, dass seine Tochter zu den Toten gehörte, drei weitere Tage danach erhielt er dieselbe bittere Nachricht über seine Frau. Löwen blieb zurück mit einer weiteren, schwerbehinderten Tochter und einem damals 16-jährigen Sohn.

Bahn zeigte sich unsensibel

Aber schockierend erscheint aus heutiger Sicht auch das, was danach passierte: Die Deutsche Bahn leugnete ihre Verantwortlichkeit und provozierte mit einem angebotenen Schmerzensgeld von 30 000 Mark. Die höheren Etagen des Bahnmanagements wurden niemals angeklagt, ein Prozess gegen drei verantwortliche Ingenieure, der sich im Gutachterstreit verhedderte, endete fünf Jahre später ohne Urteil.

Die Bahn zog durchaus Konsequenzen: Zulassungsregeln, Sicherheitsmargen und Wartungsintervalle sind teils viel strikter als vor 25 Jahren. Und man hat auch darauf verzichtet, noch einmal die damalige Radkonstruktion zu nutzen, sondern sorgt mit einem hohem Aufwand bei der Wartung für den erwünschten Fahrkomfort. Allerdings brach Anfang Juli 2008, fast exakt zehn Jahre nach Eschede, bei Köln eine Achse bei einem ICE – zum Glück bei niedriger Geschwindigkeit. Die Bahn musste tausende Radsätze austauschen.

Zäsur bei Umgang mit Katastrophenopfern

Doch Eschede setzte am Ende auch eine Zäsur für den Umgang mit Opfern von solchen Katastrophen. Die Hinterbliebenen organisierten sich in einer Selbsthilfegruppe, die auch noch nach dem Scheitern der juristischen Aufarbeitung den Druck auf die Deutsche Bahn aufrecht erhielten.

Und so kam es dann zum fünfzehnten Jahrestag des Unglücks zum ersten Auftritt eines Bahnchefs auf der jährlichen Gedenkfeier an der 2001 eröffneten Gedenkstätte. Die offizielle Entschuldigung des damaligen Bahnchefs Rüdiger Grube empfanden die Angehörigen als eine späte Genugtuung.

Gedenkfeier mit Bahnchef und Verkehrsminister

Und so werden nach einem Vierteljahrhundert zur Gedenkfeier am Sonntag der heutige Bahnchef Richard Lutz und Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) kommen. Auch für die Deutsche Bahn bleibt es ein Trauertag. Züge werden die einstige Unglücksstelle für einige Stunden nur langsam passieren. Und in Stuttgart wird man die auf diesen Samstag fallende Fertigstellung der letzten Kelchstütze im künftigen Hauptbahnhof nur leise begehen.

Bilder