Angriffe um Atomkraftwerk Wie sicher ist das AKW Saporischschja?

Klaus Zintz
Das Atomkraftwerk wurde zum Kriegsschauplatz: ein russischer Soldat vor einem Reaktorblock in Saporischschja Foto: imago//Konstantin Mihalchevskiy

Europas größtes Atomkraftwerk ist von militärischen Aktionen bedroht. Die Befürchtungen sind groß, dass es zu einer nuklearen Katastrophe kommen könnte. Wie berechtigt sind die Sorgen, und welche Gefahren könnten drohen: Ein Überblick

 
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Das Atomkraftwerk in der Ukraine ist von russischen Soldaten besetzt. Und immer wieder wird es beschossen, die Lage ist brandgefährlich. Nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) stellt es zwar derzeit kein Sicherheitsrisiko dar. Doch das muss nicht so bleiben. Wir geben einen Überblick über die bekannten Fakten.

Wie ist die aktuelle Lage? In den letzten Tagen war das Atomkraftwerk immer wieder unter Beschuss geraten. So berichtete der ukrainische Konzern Energoatom jüngst von zehn Einschlägen in der Nähe des Atommeilers. Nach Angaben der russischen Besatzungsbehörden ist Saporischschja mit schwerer Artillerie und Raketenwerfern angegriffen worden – aus Ortschaften, die unter ukrainischer Kontrolle stünden. Die Ukraine wiederum beschuldigt Russland, das Kraftwerk als Festung für Angriffe zu nutzen. Unabhängige und überprüfbare Angaben gibt es nicht. Nach Einschätzung von Rafael Grossi, dem Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), stelle das Kraftwerk derzeit allerdings kein Sicherheitsrisiko für Europa dar. Doch das könne sich jederzeit ändern.

Bei einer von Russland angefragten Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats lehnte Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja die Forderung nach einem Abzug der Truppen ab. Derweil werden die Forderungen nach dem Besuch einer internationalen Expertenkommission in dem Atomkraftwerk immer lauter.

Was für ein Kraftwerk ist Saporischschja? Die Reaktoren sind sowjetische Druckwasserreaktoren (WWER). Errichtet wurden die Blöcke in den 1980er Jahren. Der letzte Block ging im Jahr 1996 in Betrieb. Gemessen an der Gesamtleistung ist das im Südosten der Ukraine gelegene Atomkraftwerk das größte in Europa. Mit seinen sechs Blöcken zu je 1000 Megawatt elektrischer Bruttoleistung kann es zusammen 6000 Megawatt Strom liefern.

Wer betreibt derzeit das Kraftwerk? Auch nachdem das AKW im März von russischen Truppen eingenommen wurde, wird es nach wie vor von einer örtlichen ukrainischen Mannschaft betrieben. Experten des russischen Atomkonzerns Rosatom sollen die Aufsicht haben. Durch diese Situation steht das ukrainische Personal zweifellos unter Stress – was sich bei einem Notfall auf die dann schnell zu treffenden Entscheidungen sehr negativ auswirken könnte.

Wie sicher ist Saporischschja? Die Reaktoren sind mit den damals üblichen sowjetischen Sicherheitsstandards gebaut worden. Allerdings wurden sie – nicht zuletzt unter dem Eindruck des GAU im japanischen Fukushima – auch mit westlicher Hilfe sicherheitsmäßig nachgerüstet. Unter anderem wurde in jüngerer Zeit ein Notkühlsystem eingebaut. Auch bei der Notstromversorgung wurde nachgebessert. Dadurch soll die Kühlung der Anlage in jedem Fall gewährleistet sein und eine mögliche Kernschmelze verhindert werden.

Welche Folgen können militärische Aktionen haben? Die Hülle um den Reaktor eines Atomkraftwerks, das sogenannte Containment, ist massiv gebaut, damit es etwa äußeren Einwirkungen wie einem Flugzeugabsturz standhalten kann. Welchen direkten militärischem Beschuss sie jedoch aushält, ist offen. Denn grundsätzlich waren solche Angriffe nicht Teil des Sicherheitskonzepts. Allerdings ist die Annahme berechtigt, dass ein absichtlicher oder versehentlicher Beschuss mit herkömmlichen Waffen noch zu keinen katastrophalen Schäden führen dürfte. Bei den großen Atomunfällen in der Vergangenheit – Three Mile Island 1979 in den USA, Tschernobyl 1986 in der damaligen Sowjetunion und Fukushima 2011 in Japan – hatte aber stets die berühmt-berüchtigte Verkettung unglücklicher Umstände und Entwicklungen zu den Kernschmelzen geführt.

Es braucht für dieses Szenario auch keinen direkten Angriff auf die Reaktorhülle. Denn auch wenn die umgebende Infrastruktur massiv geschädigt wird, kann es zu unkontrollierbaren Entwicklungen kommen: Werden etwa die Hochspannungsleitungen zerstört, kann das im Fall eines lang andauernden Stromausfalls dazu führen, dass die Notkühlung auf Dauer auch mit Notstromaggregaten nicht richtig funktioniert – wie es in Fukushima der Fall war. Und auch der Terrorangriff 2011 auf das World Trade Center in New York hat gezeigt, dass die Türme zwar wie berechnet dem Einschlag der großen Verkehrsflugzeuge standgehalten haben, nicht aber dem anschließenden Feuer.

Kann es zu einer Explosion wie bei einer Atombombe kommen? Nein, das ist nicht möglich, weil die physikalischen Voraussetzungen wie in einer Atombombe in einem AKW nicht gegeben sind. Allerdings können die Schäden auch bei einer „normalen“ Explosion gewaltig sein, vor allem wenn radioaktives Material durch die Explosion und einen eventuell folgenden Brand hoch in die Luft geschleudert und dann mit Winden weit verteilt wird.

Was gibt Anlass zur Hoffnung? Wichtig ist, dass bei einem großen Atomunfall sowohl Russland als auch die Ukraine massiv und großflächig in Mitleidenschaft gezogen werden können – wie dies auch nach der Katastrophe in Tschernobyl 1986 der Fall war. Das sollte die Bereitschaft der Kriegsgegner zu allzu riskanten militärischen Optionen hemmen. Hinzu kommt, dass die ukrainischen Atomexperten eben durch Tschernobyl, aber auch durch die Kriegsereignisse der letzten Monate viel Erfahrung haben. Und dass die ukrainischen Reaktoren in den letzten Jahren sicherheitstechnisch aufgerüstet wurden.

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