Über Jahre nahmen Ärzte Patienten mit Problemen bei der Dosisreduzierung nicht ernst. Der australische Psychiater Mark Horowitz sagt in Interviews und sozialen Medien, er habe dies auch erst realisiert, als er selbst betroffen war. Nach zwölf Jahren Einnahme versuchte er ein SSRI abzusetzen, und zwar zügig.
Die Folge seien extreme Schlaflosigkeit, Schwindel, Konzentrationsschwierigkeiten, Herzrasen und Angstzustände, sodass er das Medikament wieder eingenommen habe. Es sei definitiv „die unangenehmste Erfahrung“ in seinem Leben gewesen. Davor habe er nie etwas über Entzugserscheinungen bei Antidepressiva gehört, weder im Medizinstudium noch in seiner Psychiatrieausbildung.
Heute erforscht er verträglichere Methoden des Absetzens. Viele Patienten müssen minimierte Dosen extrem langsam reduzieren („Tapering“), schrieb er in dem Fachmagazin The Lancet Psychiatry. Horowitz sagt, als es ihm schlecht ging, habe er kaum Hinweise auf heftige Absetzsymptome gefunden. Der Psychiater musste sich dann auch Unterstützung in Selbsthilfeforen von Laien holen. Lediglich Giovanni A. Fava, ein italienischer Psychiater und ehemalige Professor an der Universität Bologna, habe früh dazu geschrieben. Fava hat den umfangreichen Leitfaden „Antidepressiva absetzen“ für Fachpersonal publiziert. Laut dem italienischen Psychiater hat jeder zweite Patient starke Probleme mit dem Absetzen.
Deutsche Forscher kommen auf niedrigere Zahlen als Italienische
In einer Studie aus dem letzten Jahr ermittelten Forscher niedrigere Zahlen. Ein Team um Christopher Baethge des Instituts für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Köln und Tom Bschor von der Universität Dresden haben im vergangenen Jahr ebenfalls in The Lancet eine Meta-Analyse veröffentlicht. Demnach entwickelten nur 15 Prozent der Patienten nach dem Absetzen von Antidepressiva Symptome, bei 2,8 Prozent seien sie schwer. Besonders häufig zeigten sich diese Symptome nach der Einnahme von SSRI wie Venlafaxin. Bei diesem sei „besondere Vorsicht“ geboten. Die meisten Betroffenen können Antidepressiva ohne relevante Symptome absetzen, so die Forscher.
Doch viele Patienten machen andere Erfahrungen – wie Pia (27) aus Stuttgart. Am Anfang ihres Studiums habe sie „eine lange, depressive Phase“ gehabt. Sie weint viel, schläft schlecht, ist teilnahmslos, „wie hinter einem Milchglas“.
Viele Nebenwirkungen verschwinden nach dem Absetzen
Weil sie kurz darauf ins Auslandssemester will, macht ihre Mutter ihr einen Termin beim Psychiater, der ihr ein Antidepressivum verschreibt. Auf einer kleinen französischen Insel im Indischen Ozean angekommen, macht sie mehrmals die Woche Sport, geht viel wandern, hat kaum Uni. Nach einigen Wochen schläft sie besser, kann ihre Umwelt wieder wahrnehmen. Ob das am Medikament lag oder am Auslandssemester? „Ich weiß es nicht“, sagt sie . Aber sie hat einiges reflektiert: „In der Depression geht es vor allem um: Ich, Ich, Ich.“ Heute kann sie sich auch wieder auf ihr Umfeld konzentrieren – nicht nur auf sich selbst.
Als sie das Medikament irgendwann absetzt, stellt sie fest: Sie isst weniger, muss nicht ständig überall schlafen. „Auch meine Libido hat sich erholt“, sagt Pia und fügt hinzu: Selbst die depressivste Phase habe bei ihr keinerlei Auswirkungen auf ihr Sexualleben gehabt, das Medikament schon. Seitdem schläft sie unruhiger, wacht früh auf, hat „wieder so viele Gedanken“.
Die englische Psychiaterin Joanna Moncrieff („Chemically Imbalanced: The Making and Unmaking of the Serotonin Myth“) bezweifelt, dass Antidepressiva bei Depressionen wirklich so sinnvoll sind. Moncrieff ist Professorin am University College London und forscht viel zu diesem Thema. „Unsere Gesellschaft ist abhängig von diesen Mitteln“, sagt sie. Es klingt auch leicht: Eine Pille und das Stimmungstief ist vorbei, die psychische Krankheit weg. „Eine Therapie wiederum ist eine intensive und zeitaufwendige Sache, weil man sich mit den eigenen Problemen beschäftigen muss.“ Diese würde aber viele Menschen auf lange Sicht stärken.
Insgesamt hält sie den Nutzen von Antidepressiva für fraglich, der Effekt sei in Studien im Vergleich zu Placebos zu schwach. Für diesen Standpunkt wird sie von vielen Ärzten und Forschern teils heftig kritisiert, sagt sie. „Aber ich argumentiere auf Basis von randomisierten Kontrollstudien“, betont sie. Sie sei keine strikte Gegnerin, verschreibe sie, wenn Patienten diese wünschten. Davor müsse aber eine umfassende Aufklärung über mögliche Probleme beim Absetzen sowie Nebenwirkungen stattfinden. „Bei manchen treten später so schwere Absetzsymptome auf, dass sie nicht mehr arbeiten können.“
Das Gefühl, mit dem eigenen Gehirn stimmt etwas nicht, frustriert viele
Moncrieff hält es zudem für bedenklich, Menschen mit Depressionen zu vermitteln, es stimme „nur“ etwas in ihrem Gehirn nicht. Dies würde Patienten das Gefühl geben, sie müssten nun lebenslang Medikamente nehmen und hätten selbst keinen Einfluss auf ihre Krankheit. „Was für eine desillusionierende Idee.“ Viele Ärzte seien fokussiert darauf, dass Depressionen eine biologische Ursache hätten. „Sie realisieren dabei nicht, was sie ihren Patienten antun. Das ist so grausam“, so ihre Auffassung. „Und wenn Patienten es nicht schaffen, das Medikament loszuwerden, fühlen sie sich wie Versager“, ergänzt sie.
Viele sind froh, wenn sie irgendwann von den Medikamenten loskommen. Sarah sagt, sie sei stolz, dass sie trotz aller Probleme das Absetzen durchgezogen habe. Sie habe wieder richtig fühlen können. „Seitdem habe ich keine Psychopharmaka mehr angerührt“, schreibt sie. Und auch Pia merkt, es geht ihr heute auch ohne Medikamente gut. Sie habe manches in ihrem Leben grundlegend geändert. Geblieben sei leider nur eine Sache: „Die Unbeschwertheit kriege ich nicht mehr hin.“ Wichtig war ihr aber: Wer bin ich ohne das Medikament?
Hilfreiche Tipps beim Absetzen
FINISH
Was kann auftauchen an Symptomen? In der englischsprachigen Fachwelt ist die FINISH-Regel verbreitet. Das sind grippeähnliche Beschwerden (Flu-like), Schlafstörungen (Insomnia), Übelkeit (Nausea), Gleichgewichtsstörungen (Imbalance), Missempfindungen (Sensory disturbances) sowie Reizbarkeit, Agitation und Ängstlichkeit (Hyperarousal). Bei SSRI/SNRIs kommen oft stromschlagähnliche Empfindungen in Armen, Beinen oder am Kopf („Brain Zaps“) vor.
Anleitung
Laut dem „Royal College of Psychiatrists“, der englischen Psychiatrie-Gesellschaft, gibt es acht bis neun SSRI-/SNRI-Präparate, die mit einem „hohen Risiko“ beim Absetzen eingestuft werden. Auf der Website „Stopping antidepressants“ (https://www.rcpsych.ac.uk/mental-health/translations/german/stopping-antidepressants) gibt es eine deutsche Übersetzung mit ausführlichen Anleitungen für einzelnen Wirkstoffe aus der Gruppe der Antidepressiva. (nay)