Aus der Region Corona-Proteste in Hildburghausen: Polizei setzt Pfefferspray ein

Im bundesweit schlimmsten Corona-Hotspot in Hildburghausen ziehen einige hundert Menschen singend gegen den Lockdown auf die Straße.

 
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Hildburghausen/Coburg - Mit Entsetzen und Unverständnis haben Politiker aus allen Teilen Deutschlands auf eine Corona-Demo von etwa 400 Menschen reagiert, die in der Südthüringer Stadt Hildburghausen für Aufregung gesorgt hat. Im bundesweiten Corona-Hotspot mit einer Inzidenz vom 600 hatten sich die Demonstranten versammelt, um gegen die Auflagen zu protestieren. Die Polizei löste die Demo nach gut zwei Stunden auf, dabei benutzte sie auch Pfefferspray.

Die Sorgen um die Entwicklung im benachbarten Thüringen treibt auch die Bürger von Bad Rodach im Landkreis Coburg um. Auch dort sind die Corona-Neuinfektionen zuletzt stark gestiegen - von zwölf vor zwei Wochen auf 44 Mitte vergangener Woche auf 70 aktuell. Bei rund 6400 Einwohnern. Zum Vergleich: Die Stadt Coburg zählt 110 aktive Fälle bei etwas mehr als 41 000 Einwohnern. Bad Rodachs Bürgermeister Tobias Ehrlicher beobachtet die Lage mit Sorge. Am Telefon will er nicht darüber spekulieren, ob die Infektionen sich vom thüringischen Nachbarlandkreis her ausgebreitet haben. "Wir sind ein Wirtschafts- und Kulturraum, es gibt viele Pendler in die eine wie in die andere Richtung", sagt er. "Wir müssen gemeinsam schauen, dass wir die Kuh vom Eis bekommen." Was am Mittwochabend bei der Demo in Hildburghausen passiert ist, habe ihn daher überrascht und schockiert, aber auch verwundert.

Er halte engen Kontakt zum Coburger Gesundheitsamt und zum Landrat. Vor allem wünscht sich Tobias Ehrlicher ein einheitliches Vorgehen sämtlicher Bundesländer - beispielsweise zur Maskenpflicht in Schulen. "Wenn es unterschiedliche Regelungen gibt, dann ist das eine zusätzliche Herausforderung."

Zurück in Hildburghausen. Der Tag nach der Demo: Maher Jrab ist guter Dinge. Immerhin hat er schon das Glück, an diesem Donnerstag überhaupt Hähnchen in Hildburghausen verkaufen zu dürfen. Es ist der erste Markttag seit Beginn der verschärften Auflagen im Landkreis mit den momentan höchsten Corona-Infektionszahlen in Deutschland, Inzidenzwert: 602. Die Stände sind weitläufig verteilt, acht Stück über den ganzen Platz, später wird noch ein Bäcker eintrudeln. "Erst war der Wochenmarkt abgesagt, dann wurde er doch zugelassen, weil keine Gefahr besteht", sagt Maher Jrab. Gerade hat er die Klappe an der Seite seines Hähnchen-Wagens geöffnet. Die Verkaufstheke kommt zum Vorschein, an der Rückwand brutzeln die Vögel an Spießen. Jetzt heißt es: Warten auf Kunden.

An diesem frühen Vormittag tingeln einige Leute über den Markt, manche alleine, manche zu zweit, die meisten scheinen es nicht eilig zu haben. Sie bummeln vorbei an Klamotten, Handtüchern, Taschen und Masken, für die einen lohnt sich ein Blick auf die Waren, für andere ist der Weg zwischen den Ständen nur Durchgang zur Fußgängerzone. Mittendrin stehen, im Rechteck aufgebaut, zwanzig Tische mit je vier Stühlen, die zu einem Eiscafé gehören.

Seit Mittwoch gilt eine Ausgangsbeschränkung, das Wohngrundstück verlassen darf nur noch, wer einen triftigen Grund hat. "Es sind schon weniger Leute als üblich unterwegs", sagt Maher Jrab. Zu ihm an den Hähnchen-Wagen ist Uwe Heins gekommen. Heins arbeitet beim Ordnungsamt und kontrolliert als Marktmeister, dass Abstände eingehalten und Masken getragen werden. "Auf jeden Fall ist sonst mehr los", sagt auch er. "Man merkt, dass die Menschen vorsichtiger sind." Immer wieder wird er angesprochen, die Leute haben Fragen. Ob ein bestimmter Händler noch kommt, zum Beispiel. Als Uwe Heins verneint, fragt eine ältere Dame: "Ist Hildburghausen jetzt wohl ein schwarzes Loch?" Dann schüttelt sie den Kopf und geht weiter.

"Wir versuchen, den Markt so lange stattfinden zu lassen wie es geht", sagt Uwe Heins. Er deutet mit lang gestrecktem Arm zum gegenüberliegenden Ende des Platzes, dann in andere Richtungen und erklärt dabei, wie er möglichst großen Abstand zwischen den Ständen herstellt. "Hier sind bessere Bedingungen als in jeder Kaufhalle", sagt er.

Trotzdem komme es auch vor, dass er mal eingreife: Wenn jemand behaupte, er habe ein Attest, das ihn von der Maskenpflicht befreie, aber dieses dann nicht vorzeigen wolle. Bisher, sagt Uwe Heins, habe er jedoch noch nie die Polizei dazuholen müssen. "Insgesamt erwische ich nur ganz wenige ohne Maske - und die haben in der Regel nur vergessen, sie aufzuziehen." Ganz anders am Vorabend. Mehrere Hundert Menschen ziehen durch die Innenstadt, singen "Oh, wie ist das schön", die meisten ohne Mund-Nase-Schutz und ohne Abstand. Eine Anwohnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat den Marsch über die Webcam am Rathaus von zu Hause aus verfolgt. "Das Virus ist tödlich, da muss man Vernunft zeigen, das verstehe ich", sagt sie. "Aber ich verstehe auch, dass es schwierig ist, wenn beide Eltern berufstätig sind und die Schulen und Kitas wieder dichtmachen."

Kleinkinder, erklärt sie, könnten das nicht begreifen und wüssten nicht, was los ist. Und den älteren Schülern fehlten die Klassenkameraden. "Der Sohn meiner Nachbarin ist 14 Jahre alt. Der ist viel zu alleine. Die Einsamkeit macht einem schon zu schaffen", sagt die Frau. Ist auch sie einsam? "Ich lebe alleine, ja." Weil es nicht anders geht, telefoniere sie eben viel, um in Kontakt mit anderen Menschen zu bleiben.

Vor einer Metzgerei in der Fußgängerzone werden Bratwürste gebraten. Zwei Warteschlangen sind von Weitem zu sehen: Eine beim Grill, eine für den Laden. Die erlaubte Personenzahl im Geschäft ist begrenzt. Vor der Tür haben sich fünf Kunden mit Abstand zueinander aufgereiht, wie es die Regel vorsieht. Zwei ältere Damen unterhalten sich. Eine von ihnen erzählt, sie fühle sich dieser Tage nicht eingeschränkt. "Wir sind ja relativ gut dran, wir wohnen in der Natur", sagt sie. "Ansonsten halten wir Abstand so gut es geht." Dass sie in der Hildburghäuser Innenstadt eine Maske tragen muss, störe sie nicht. Sie nimmt es locker.

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