Besonderer Brauch „Damit andere sich freuen“

Pia Bayer

Eine besondere Tradition feierte Untermerzbach am Freitag: Seit 1674 bekommen dort die Grundschulkinder einmal im Jahr einen Märtelsweck geschenkt.

„Man freut sich jedes Mal, wenn er kommt – und dass dran gedacht wird“, sagt Irene Müller-Schulheiß. Der verstorbene Mann der 91-Jährigen wurde einst von den Bewohnern des Hauses Nummer 21 in Recheldorf als Kind angenommen und hat damit ein besonderes Recht im Rahmen einer besonderen Untermerzbacher Tradition geerbt. „Die Tante hat immer gesagt: Besteht darauf, dass ihr den Märtelsweck bekommt.“ Das gehöre zum Haus, erzählt Müller-Schulheiß weiter und ist glücklich, als Grundschulleiterin Anja Schmidt in diesem Jahr am Freitag, den 9. Dezember, um 12.30 Uhr an ihre Tür klopft. Damit erhält der Märtelsweck auch symbolisch die Größe, die er in Teigform ohnehin hat.

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1674 stiftete die Recheldorfer Bäuerin Elisabeth Lurz aus Haus Nummer 21 die Pacht eines Ackers, damit jedes evangelische Schulkind in Untermerzbach einen großen Wecken bekam. Recheldorf gehörte damals schon wie Obermerzbach und Wüstenwelsberg zur evangelischen Kirchengemeinde Untermerzbach und die fränkische Landbevölkerung war so arm, dass Kinder oft ohne Verpflegung zur Schule gehen mussten. Das wollte die Bäuerin zumindest für einen Tag im Jahr ändern.

Ab 5.30 Uhr sorgen Armin Franke und Martin Dorsch in der Brot- und Feinbäckerei Franke in Lahm am Freitag dafür, dass der Brauch auch im 349. Jahr seine Form aus Teig erhält. Kneten, ruhen, formen, backen: 13,5 Kilogramm Teig verarbeiten sie an diesem Morgen zu 90 Märtelswecken. Um kurz vor 8 Uhr erfüllt ein Duft die Backstube, den vermutlich jedes ehemalige Untermerzbacher Schulkind direkt wieder erkennt.

Im Namen „Märtelsweck“ kommt dabei der kleine Martin vor. Denn in Franken brachte in alter Zeit eigentlich Sankt Martin den braven Kindern Nüsse und Obst. Begleitet wurde er dabei von einem finsteren Gesellen, der die bösen Kinder mit der Rute versorgte. Im Zuge der Reformation entfiel im überwiegend protestantischen Franken dann allerdings die Heiligenverehrung. Weder Sankt Martin noch der heilige Nikolaus sollten damit protestantischen Kindern in der Vorweihnachtszeit als Gabenbringer dienen. Quasi als Ersatz übernahm der „Pelzemärtel“ diese Aufgaben und verteilte fortan am 11. November Geschenke an protestantische Kinder. In einem Gedicht beschreibt der zu seiner Zeit sehr bekannte Biedermeier-Kinderlyriker Friedrich Güll die Szene für brave Kinder dabei wie folgt: „[...] Das freut den Pelzemärtel sehr / Und sagt: ,Nun geb’ ich euch noch mehr.’ / Und wirft auch noch in jedes Eck / einen großen großen Märtelsweck, / bestreut mit Zucker und mit Mohn, / Und spricht mit freundlichem Ton: / ‚Fürchtet euch nicht / vor meinem Gesicht! / Bin jedem Kind gut, / das nichts böses tut. [...]’“

Nachdem der Stiftungsacker der Elisabeth Lurz vor etlichen Jahren der Flurbereinigung zum Opfer gefallen und der Stiftungszweck entfallen ist, übernimmt seitdem die evangelische-lutherische Kirchengemeinde die Kosten für den Brauch. In Untermerzbach bringt den Märtelsweck deshalb am Freitag die Pfarrerin ins Klassenzimmer – nicht als süßes Gebäck, sondern als großen weißen Weck, nicht mehr nur für protestantische Kindern, sondern für alle Grundschüler und das auch nicht mehr am 11. November, sondern seit vielen Jahren traditionell am 6. Dezember. In diesem Jahr wurde der Märtelsweck sogar erst am 9. Dezember an die Untermerzbacher Grundschulkinder verteilt – „weil Pfarrerin von Aschen am 6. Dezember Urlaub hatte“, erklärt Grundschulleiterin Anja Schmidt.

Der Grundgedanke für die besondere Untermerzbacher Tradition bleibt dabei auch nach fast 350 Jahren noch der gleiche: „Damit andere sich freuen“, erklärt Pfarrerin Sonja von Aschen den Schulkindern die Motivation der Recheldorfer Bäuerin Elisabeth Lurz. Im Schulhaus duftet es nach frischem Märtelsweck.