Coburg Gedenkweg zur Reichspogromnacht

Nie wieder: Mit einem Gedenkmarsch wurde am Mittwoch den Coburger Opfern der Reichspogromnacht 1938 gedacht. Dabei wurde auch davor gewarnt, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

 
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Aus heutiger Sicht scheinen die unvorstellbaren Gewalttaten der Novemberpogrome im Jahr 1938 ein grausames Relikt längst vergangener Zeiten zu sein. In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden landesweit Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe gestürmt und zerstört. Auch in Coburg überlebten zahlreiche Mitmenschen die sogenannte Reichskristallnacht nicht. Selbst nach 84 Jahren haben die Gewalttaten ihre Spuren in der heutigen Gesellschaft hinterlassen. Um an die Coburger Opfer der Pogromnacht zu erinnern, wurde am Mittwochabend ein Gedenkmarsch vom Rathaus bis zum Ilse-Kohn-Platz veranstaltet. „Wir haben uns in diesem Jahr ausführlich mit dem Deutschen Tag vor 100 Jahren in Coburg beschäftigt“, betonte Dieter Stößlein vom Arbeitskreis Lebendige Erinnerungskultur zur Begrüßung. „Er war wie ein Brandbeschleuniger für den reichsweiten Einfluss der Nationalsozialisten und für Coburg ein großer Schritt zu einer von nationalsozialistischem Gedankengut geschwängerten Stadt, das in der Mitte der Gesellschaft angekommen war. Die Übergriffe auf Juden 16 Jahre später waren der vorerst unrühmliche Höhepunkt der Entwicklung.“

Starkes Zeichen der Gesellschaft

Für Oberbürgermeister Dominik Sauerteig hat der Gedenkmarsch eine wichtige Symbolkraft. „Ich freue mich, dass wir damit ein klares Zeichen in die Stadtgesellschaft, in das Coburger Land und darüber hinaus senden, das sich kurz gefasst in zwei Worten zusammenfassen lässt: Nie wieder. Wir wollen mit diesem Gedenkweg gemeinsam zeigen, dass es uns nicht kaltlässt, was Menschen einander angetan haben – und sicher in anderer Form auch heute noch einander antun.“

Dabei geht es Sauerteig jedoch nicht um eine Schuldzuweisung der Gräueltaten. Vielmehr betrachtet er es als Pflicht, aus den damaligen Ereignissen und den Fehlern zu lernen. „Solche Gedenktage müssen uns lehren, nicht wegzuschauen. Wir müssen hinsehen und aufstehen, wenn wir auch nur die leisesten Anfänge von Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erkennen.“

Auf keinen Fall so weiter

Der Kultur- und Museumswissenschaftler Hubertus Habel hingegen erinnerte daran, welcher Auslöser letztendlich zu den brutalen Ausschreitungen 1938 geführt hatte. „Es war nicht der angebliche Volkszorn, der sich gegen die rechtlich und sozial schon längst ausgegrenzten jüdischen Mitmenschen entlud. Die Nazis instrumentalisierten ihren gewalttätigen Antisemitismus zur Finanzierung ihres Rassen- und Vernichtungskrieges von 1939 bis 1945.“ Daher scheint das Credo „Nie wieder“ für Habel inzwischen längst überholt zu sein: „Angesichts der Fremden- und Judenfeindlichkeit, die rechtsradikale Parteien und Gruppierungen, selbst ernannte Reichsbürger und nicht zuletzt die ziemlich verqueren Schiefdenker salonfähig gemacht haben, sollte es besser heißen: Auf keinen Fall weiter“. Und das bedeute mehr denn je, die Ursachen der NS-Diktatur kenntlich zu machen. Denn letztendlich sei es genau diese absurde Verschwörungsideologie gewesen, die vor 84 Jahren zu den Novemberpogromen geführt und in den vergangenen Jahren mehrere Anschläge ausgelöst habe, wie beispielsweise die NSU-Mordserie.

Im Anschluss führte der Gedenkmarsch über den Marktplatz in die Spitalgasse hinein. Vor dem Gebäude mit der Hausnummer 4 erinnerte Historikerin Franziska Bartl an den jüdischen Rechtsanwalt Martin Baer, der gemeinsam mit seinem Bruder in den Räumen eine Kanzlei betrieben hatte. „Damals haben sich viele Bürger an die Kanzlei gewandt, die in Konflikt mit dem NS-Regime geraten waren. Damit machten sich die Baers zu Hassobjekten der Nationalsozialisten“, so Bartl. Am 9. November schlugen SA-Leute Martin Baer mit einer Eisenstange zusammen. „Mit ihren antijüdischen Parolen vertrieben die Nazis den Baers nach und nach alle Mandanten. 1938 musste Baer die Kanzlei schließen und flüchtete aus Coburg.“

Teil der Erinnerungskultur

Wenige Meter weiter erinnerte Autor Rupert Appeltshauser an das Schicksal von Max und Jenny Frank. Max Frank war einer der beiden Chefs des Kaufhauses Conitzer. „Am Vormittag drang ein Trupp von SA-Leuten im Auftrag der NSDAP-Kreisleitung in die Wohnung des Ehepaars ein“, so Appeltshauser. Max Frank hatte zu diesem Zeitpunkt schwere Herzprobleme, seine Frau Jenny lag gelähmt und hilflos im Bett. „Eine Schwester, die sich um Jenny Frank kümmerte, trat den Nazis entgegen und stellte sich schützend vor Max Frank. Noch im Dezember starb er an den Folgen. Jenny Frank verließ Coburg im Januar 1939 und zog nach Würzburg. Am 23. September wurde sie von dort aus nach Theresienstadt deportiert und am 18. April 1943 ermordet.“

Zum Abschluss versammelten sich die Teilnehmer auf dem Ilse-Kohn-Platz, der erst vor wenigen Wochen seinen Namen erhalten hatte. Die Eltern von Ilse Kohn, Siegfried und Hermine, hatten damals eine Textilhandlung, wie Hubertus Habel erklärt. „Siegfried Kohn wird 1938 in seinem Geschäft von einem NS-Fanatiker erstochen. Mutter Hermine wird nach Beginn des Zweiten Weltkriegs deportiert, sie stirbt in einem polnischen Getto.“

Die Reichspogromnacht blieb damals ohne Widerstände in der Bevölkerung. Sie markiert den Beginn der systematischen Vertreibung der Juden in Deutschland. „Diese Nacht ist Teil einer Kultur des Erinnerns, die uns heute wachsam werden lässt“, schildert Stößlein. „Sie ist Anlass des mahnenden Gedankens an die Diskriminierung und Gewalt, der jüdische Bürger unter der Herrschaft der Nazis ausgesetzt waren. Wir wollen nicht den Fehler machen, nur zuzuschauen und durch Schweigen zuzustimmen.“

Siehe auch Seite 13

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