Coburg und seine Vergangenheit Mitgefühl statt Schuldgefühl

Zum Auftakt der Reihe „Kultur im Fokus“ wirbt der Historiker Gert Melville für eine Erinnerungskultur, die von Verantwortung und Empathie getragen wird.

 
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Professor Gert Melville warnt vor einer „Kultur des Vergessens“. Foto:  

„Schuld lässt sich nicht vererben. Coburg ist keine Täterstadt mehr!“ Ein nachdrückliches Statement aus berufenem Munde, das leicht von jenen missverstanden werden könnte, die Coburgs NS-Vergangenheit noch immer beschweigen, ignorieren, verdrängen möchten. Doch solcher Schlussstrich-Mentalität will Gert Melville keineswegs Vorschub leisten, ganz im Gegenteil: Der Historiker weiß um die Bedeutung der Erinnerungsarbeit und warnt vor einer „Kultur des Vergessens“. Doch plädiert er fast 80 Jahre nach dem Ende der Tyrannei für eine Erinnerungskultur, die nicht aus Schuld und Sühne erwächst, sondern aus Verantwortung, Menschlichkeit und Mitgefühl.

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Es geht um Grundsätzliches an diesem Mittwochabend im Andromedasaal der Ehrenburg, der schier aus den Nähten platzt. Mit seiner Entscheidung, das Thema „Erinnerungskultur“ an den Beginn der neuen Vortragsreihe „Kultur im Fokus“ zu stellen, hat das Kulturbüro der Stadt offensichtlich einen Nerv getroffen. Alle Generationen sind vertreten, auch viele Jugendliche – die Ur-Ur-Enkel derer, denen Coburg sein Stigma der ersten Nazi-Stadt verdankt, wie Melville anmerkt.

„…damit so etwas nie wieder geschieht – oder immer wieder. Verdrängen, vergessen, erinnern in Coburg und anderswo“ hat der Geschichtsprofessor seinen Vortrag überschrieben, in dem er die Notwendigkeit einer seriösen, auf wissenschaftlicher Basis fußenden Erinnerungskultur aufzeigt, ihre Möglichkeiten und Methoden, aber auch ihre Risiken und Grenzen.

Wie schwer sich die ansonsten so geschichtsstolze Vestestadt damit tut, weiß der Wahl-Coburger und langjährige Vorsitzende der Historischen Gesellschaft. Die braune Vergangenheit war „lange, zu lange ein Thema non grata“, kritisiert der 78-Jährige. Noch vor 20 Jahren stießen Aufklärungsversuche geschichtsbewusster Bürger auf Unverständnis und Ablehnung, auch der Historiker selbst fand seinerzeit nach seinen Worten „wenig Widerhall“. „Die Unkenntnis ist enorm“, beklagt Melville, doch er konstatiert auch Fortschritte. Die kurz vor ihrer Veröffentlichung stehende Studie der Historikerin Eva Karl, die im Auftrag der Stadt seit 2017 die Rolle Coburgs als Versuchslabor der Nationalsozialisten untersucht, werde „einiges Licht in die verbrecherische Nazizeit“ bringen, verheißt Melville, der das Projekt mit einer Historikerkommission begleitet.

Warum so spät? „Der Mensch trauert nicht gern ewig, er verdrängt lieber“, meint Melville. Beispiele dafür findet er nicht erst in der jüngeren Geschichte: Auch der Menschen, die vor 400 Jahren Herzog Johann Casimirs „Hexenverfolgung“ zum Oper fielen und qualvoll im Feuer starben, werde ich Coburg nicht gedacht. Die vor neun Jahren am „Hexenturm“ angebrachte Gedenktafel, auf die Hubertus Habel in der anschließenden Diskussion hinweist, lässt Melville nicht gelten: „Ein Täfelchen!“

Eine Absage erteilt der Wissenschaftler Versuchen, Licht und Schattenseiten der Historie gegeneinander abzuwägen oder aufzurechnen: „Nur in der Gesamtheit ergibt sich ein Bild, das der Geschichte der Stadt gerecht wird“. In welcher Form die NS-Vergangenheit in diesem Bild angemessen berücksichtigt werden könnte, lässt der Referent an diesem Abend offen. Auf den kontrovers diskutierten „Gedenkweg der Erinnerung“, der Orte jüdischer Geschichte ins Bewusstsein rücken soll, geht er nicht ein. An einem thematisch wie geografisch fern liegenden Beispiel aus Alabama skizziert er hingegen die „Logik eines Denkmals“, das durch Symbolkraft und Verdichtung dauerhafte Aufmerksamkeit generiert.