1. Franken und Thüringen

Wie fränkisch ist der Süden Thüringens? Diese Frage liegt auf dem Tisch, seit die Region zwischen Rennsteig, Rhön und Werra Staaten angehört, deren Machtzentralen nördlich des Thüringer Waldes liegen. Vereinfacht gesprochen also seit dem Jahr 1661, als die sächsischen Adelshäuser der Wettiner und Ernestiner die Grafschaft Henneberg unter sich aufteilten. Die damals begonnene (und durch die Auflösung des Fränkischen Reichskreises 1806 und zuletzt die Abspaltung Sachsen-Coburgs 1920 vollendete) Trennung des nördlichen Teils vom Rest des fränkischen Siedlungs- und Kulturraums bestimmt bis heute die staatlichen Strukturen der Region.
Seitdem trennt eine politische Demarkationslinie, die heutige thüringisch-bayerische Landesgrenze, zwei Gebiete mit einer langen gemeinsamen Tradition. Die wirkt nicht zuletzt in der gemeinsamen fränkischen Mundart fort; das im Süden Thüringens gesprochene Hennebergische, Itzgründische und Grabfeldische gehört zu den (ost-) fränkischen Dialekten. Nur nördlich des Salzbogens bei Barchfeld und in der Rhön gibt es Misch-Mundarten, die auch thüringisch beeinflusst sind. Nicht der Rennsteig – seit jeher eine natürliche Migrations-, Kultur- und Wirtschafts-Barriere und noch heute eine der härtesten deutschen Mundartgrenzen –, sondern eine von Feudalherrschern konstruierte politische Grenzlinie bestimmt seitdem über „Hüben“ und „Drüben“.
Sind die Bewohner Südthüringens nun also Franken im falschen Bundesland? Oder ist die fränkische Identität der Menschen „hinterm Berg“ nur eine folkloristische Fußnote? In einer Region, wo man sich seit Langem als Thüringer fühlt, spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Land erstmals die ungefähre heutige Gestalt annahm?
Was liegt uns näher, könnte man zugespitzt fragen – Erfurt oder Coburg, Gotha oder Schweinfurt?


2. Länderwechsel heute und damals

Derartige Fragen stellten sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Heimatforscher, Mundart-Fans und Freunde fränkischer Kultur. Seit ein paar Jahren ist das anders: Die Wiederentdeckung von alltäglichen Gemeinsamkeiten mit den Nachbarn; die zunehmende Verquickung der südthüringischen mit der fränkischen Wirtschaft; das Verblassen des DDR-Zusammengehörigkeitsgefühls; das Gefühl, von „Erfurt“ nicht so richtig beachtet zu werden; die Furcht, in einem künftigen Bundesland „Mitteldeutschland“ ganz am Rande zu landen; die geplante Gebietsreform: Es sind verschiedene Faktoren, die die Stimme derer lauter werden lässt, die die heutige Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen nicht als unverrückbar ansehen.
Nicht von ungefähr kommen die lautesten Ansagen aus der Sonneberger Gegend, wo man mit den fränkischen Brüdern erquicklich zusammenlebt, während die geografische und mentale Entfernung nach Erfurt besonders groß ist. Dort gründete sich der Verein „Henneberg-Itzgrund-Franken“, der sich unter Thüringer Fremdherrschaft sieht und, weil die Landesregierung partout keine fränkische Eigenart des Landessüdens anerkennen will, die Franken in einem Bundesland wiedervereinigen will. Und dort, in der Stadt Sonneberg, tritt dieser Tage mit Heiko Voigt ein neuer Bürgermeister sein Amt an, der ganz explizit sagt: Falls unsere Stadt tatsächlich in einem Großkreis aufgehen soll, mit der ungeliebten Ex-Bezirksstadt Suhl als Kreissitz gar, „dann ist der Anschluss an den Landkreis Coburg die bessere Variante – und dazu machen wir dann eine Bürgerbefragung.“ Rechtlich unverbindlich, aber möglicherweise ein Signal. Auf knapp 50 Prozent, ergab eine repräsentative Umfrage vor einigen Monaten, ist die Sonneberger „Pro Bayern“-Fraktion zu schätzen.
Historisch ist der Wechsel in ein anderes Land übrigens keine neue Erfahrung für die Region. Suhl und Schleusingen waren mal hennebergisch, mal sächsisch, mal preußisch-sächsisch, Schmalkalden war erst hessisch und später preußisch-hessisch – und sie alle gehören erst seit 1945 zu Thüringen. Ein politisches Gebilde dieses Namens gibt es seit 1920. Sachsen-Meiningen, jener sächsische Feudal-Ableger, dessen Herrscher ihre Residenz an der Werra nahmen, war damals dabei. Nicht aber die Nachbarn im ebenfalls ernestinischen Sachsen-Coburg, die sich per Volksentscheid für Bayern und gegen Thüringen entschieden.


3. Die rechtlichen und politischen Möglichkeiten

Heute wäre der Übertritt eines Teils Thüringens nach Bayern eine Veränderung der Grenzen der 16 Bundesländer, die seit 3. Oktober 1990 in der Grundgesetz-Präambel stehen und daher Verfassungsrang haben.
Eine „Neugliederung des Bundesgebietes“ lässt Artikel 29 des Grundgesetzes ausdrücklich zu. Er ist Rechtsgrundlage für jeden, der solche Grenzverschiebungen anstrebt. Die möglichen Wege dorthin sind alles andere als leicht. Man braucht dafür – folgerichtig in einer Demokratie – politische Mehrheiten. Aber wie könnten die zustande kommen?


Variante 1: Staatsvertrag

Die Regierungen benachbarter Bundesländer können darüber entscheiden, ob sie ihre gemeinsame Grenze verschieben, einzelne Gebiete tauschen oder ihre Länder ganz fusionieren. Dazu müssen sie einen Staatsvertrag abschließen, der die Zustimmung beider Landtage braucht. Die Kommunalpolitiker müssen angehört werden, können aber einen solchen Landeswechsel weder initiieren noch mitentscheiden. Wenn die betroffenen Gebiete weniger als 50 000 Einwohner haben, war’s das. Auf diese Weise wurden zum Beispiel in den neunziger Jahren einige Orte zwischen Sachsen und Ostthüringen hin- und hergeschoben. Und so könnte auch zum Beispiel die Stadt Sonneberg mit ihren 24 000 Einwohnern nach Bayern geschickt werden.
Komplizierter wird es, wenn es um Territorien mit mehr als 50 000 Einwohnern geht, etwa um Landkreise. Dann muss erstens die Mehrheit der Bürger per Volksentscheid zustimmen und zweitens der Bundestag seinen Segen geben. Auf diesem Weg sollten vor 21 Jahren Berlin und Brandenburg fusionieren – was damals an einem Nein der Brandenburger im Volksentscheid scheiterte.


Variante 2: Bundesgesetz

Der Bund kann, wenn er will, auch selber aktiv werden und die Ländergrenzen neu ziehen. Und zwar per Bundesgesetz, das Bundestag und Bundesrat auch gegen den Willen der einzelnen Landtagsmehrheiten und Regierungen beschließen können. Die Bürger hätten dann mit einem Volksentscheid in jedem betroffenen Bundesland das letzte Wort darüber, ob ihr Land seine Grenzen ändert oder aufgelöst würde.
Diese Variante wäre das Mittel der Wahl, wenn man die Zahl der Bundesländer reduzieren will. Eine solche Bundes-Gebietsreform von oben riefe aber derart große Widerstände hervor, dass sich keiner heranwagt.

K Variante 3: Volksbegehren
Die Bürger einer Region entscheiden selber, welchem Land sie angehören wollen – notfalls gegen den Willen ihrer Landtage? Auch das ist laut Grundgesetz möglich – per Volksbegehren. Allerdings unter ganz speziellen Voraussetzungen.
Deren wichtigste: Es muss um einen „abgegrenzten Siedlungs- und Wirtschaftsraum“ gehen, dessen Teile in mehreren Ländern liegen und der mindestens eine Million Einwohner hat. Es zählt also die räumliche und ökonomische Einheit – eine landsmannschaftliche Zusammengehörigkeit, etwa über die Mundart, reicht nicht aus. Fordern in einem solchen Raum zehn Prozent der Wahlberechtigten eine einheitliche Landeszugehörigkeit, dann muss der Bundestag innerhalb von zwei Jahren entweder die Ländergrenze neu ziehen – oder die Bürger in den betroffenen Ländern darüber entscheiden lassen.
Für Südthüringen und seine Nachbarschaft ist die Eine-Million-Einwohner-Grenze ein paar Nummern zu groß. Der Anschluss des Kreises Sonneberg an Bayern wäre also per Volksbegehren nicht möglich. Gemeinsam mit ganz Ober- oder Unterfranken würde die magische Million aber erreicht. Doch da gibt es noch eine andere Hürde.
Eine Initiative für ein Bundesland Franken (aus Nordbayern und den fränkischen Regionen Thüringens und Baden-Württembergs) hat den Versuch vor 20 Jahren tatsächlich unternommen. Das Volksbegehren blitzte beim Bundesinnenministerium ab, eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht scheiterte. Begründung: Ein vereinigtes Franken sei kein „abgegrenzter Siedlungs- und Wirtschaftsraum“. Vielmehr seien die einzelnen Teilgebiete mehr mit anderen Regionen, etwa in Thüringen und Bayern, verflochten als untereinander.
Ein ähnliches Schicksal droht einem Volksbegehren für ein Bundesland Mitteldeutschland, das vom Bundesinnenministerium im vergangenen Jahr ebenfalls als unzulässig abgelehnt wurde. Hier steht ein Beschwerdeurteil des Verfassungsgerichts noch aus.


4. Die Hürden

... liegen also extrem hoch. Für ein Volksbegehren sind sie nach jetzigem Stand unüberwindbar. Ein Bundesgesetz ist nicht in Sicht. Ein Staatsvertrag per Landesgesetz erst recht nicht: Es darf als ausgeschlossen gelten, dass eine bayerische oder eine thüringische Landtagsmehrheit einen Teil ihres Freistaats ziehen lässt und ihn damit freiwillig verkleinert. Und selbst der lokalpatriotischste Landtagsabgeordnete wird letztlich seine Loyalität nicht der Region erweisen, sondern der (Landes-)Partei, der er seine Job-Aussichten verdankt.
Das gilt vor allem für mögliche Bayern-Befürworter von Linkspartei und CDU. Erstere fänden sich nach einem Landeswechsel plötzlich in einer Kleinstpartei wieder. Und zweitere müssten sich sogar ein neues Parteibuch besorgen.