Coburg Vier Szenarien und eine böse Vorahnung

Der Ball, er ruht: Am 12. März setzte die HBL den Spielbetrieb wegen der Covid-19-Pandemie in Liga eins und zwei aus. Foto: Henning Rosenbusch

Der HSC 2000 führt die Tabelle an, gespielt wird seit Wochen nicht mehr. Wie könnte es weitergehen mit der Saison 2019/20 in der 2. Handball-Bundesliga? Ein Gedankenspiel.

 
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Coburg - Eine Frau knutscht ihre Sitznachbarin vor Freude auf die Wange. Jakob Knauer kritzelt Autogramme, nahezu auf Augenhöhe, keinen halben Meter entfernt von jungen Bewunderern. Dominic Kelm grinst Arm in Arm mit einem Zuschauer in die Kameralinse, eng an seiner anderen Seite: Maskottchen Vestus, das zuvor Hunderten Menschen die Hand geschüttelt hatte. Es sind Szenen, die eigentlich schon zu diesem Zeitpunkt Fassungslosigkeit ausgelöst haben müssen, heute aber lesen sie sich, als seien sie einer komplett anderen Zeitrechnung entsprungen. Als entstammten sie einer anderen Realität - was ja in gewisser Weise auch zutrifft.

Dabei ist noch keinen Monat her, dass sie sich in der HUK-Arena so zugetragen haben, beim einstweilen letzten Spiel der Coburger Zweitliga-Handballer. Am 6. März, Anwurf: 20 Uhr, empfing und besiegte der HSC 2000 den TSV Bayer Dormagen. 2210 Zuschauer waren auf die Lauterer Höhe geströmt, um den Tabellenführer zu sehen.

Sechs Tage darauf, am 12., setzte die Handball-Bundesliga (HBL) den Spielbetrieb wegen der fortschreitenden Covid-19-Pandemie mit sofortiger Wirkung aus. Ziel sei es, diesen in der 2. Liga ab dem 22. April wieder aufzunehmen. Die ausgesetzten Spieltage 25 bis 29, so der Plan, sollten zu einem "späteren Zeitpunkt" nachgeholt werden.

Und bis heute hat sich an diesem Status Quo nichts Gravierendes geändert, wie Oliver Lücke, Geschäftsleiter Kommunikation und Medien bei der HBL, auf NP-Anfrage bestätigt. Die Erst- und Zweitligisten konferierten aktuell alle zwei bis drei Tage per Telefon, dabei kämen schon mal 60 Teilnehmer zusammen. Um die 45 Minuten dauere so eine Schalte, zuletzt sei es eher um kleinteilige Themen wie staatliche Beihilfen gegangen.

Wann jedoch über das große Ganze entschieden werde, also darüber, wie es denn nun weitergehen soll mit dieser angebrochenen Saison, da vermag Lücke keinen Zeitraum zu nennen: "Ich muss ehrlicherweise sagen, dass wir ein bisschen auf Zeit spielen." Man halte "nach wie vor" am Datum 22. April fest. Andererseits spiele man "alle theoretischen Möglichkeiten" durch, "na klar".

Die Neue Presse hat vier denkbare Szenarien - bezogen auf den HSC - zusammengetragen, um einzuschätzen, worauf es wohl hinauslaufen wird. Und so viel vorweg: Die Zeichen lassen ein böses Ende für den derzeitigen Spitzenreiter erahnen.

Szenario eins - Die Saison wird vor Zuschauern zu Ende gespielt.

Es wäre die Rosarote-Wölkchen-Variante aller: Die 2. Liga nimmt mit dem 30. Spieltag, also dem ersten planmäßigen nach jenem ominösen 22. April, den Spielbetrieb wieder auf und holt die aufgeschobenen fünf Spieltage nach. Beides vor gefüllten Rängen. Sportlich wie finanziell wäre es das Traum-Szenario. Allerdings wird es auch genau das bleiben: ein Traum.

Um sich vor Augen zu führen, wie absurd dieses Szenario ist: Der HSC würde an jenem 30. Spieltag, am 24. April, die HSG Konstanz zu Gast haben. Dabei liegt es noch keine halbe Woche zurück, dass der Ministerpräsident die bayernweiten Ausgangsbeschränkungen bis zum 19. April verlängert hat, mindestens. Und fünf Tage später sollen sich in der HUK-Arena mehr als 2000 Zuschauer dicht an dicht drängen? Nicht einmal über die Leiche von Markus Söder.

Bleibt die Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Spielbetriebs noch weiter aufzuschieben. Doch deutet momentan einfach nichts daraufhin, dass sich die Gesamtsituation in absehbarer Zeit entscheidend entspannt. Erst recht nicht in einem Maße, als dass Großveranstaltungen wieder denkbar wären. Zumal diese stets die Gefahr einer "biologischen Bombe" in sich tragen würden.

Dazu dürften sich ab einem gewissen Zeitpunkt auch Terminprobleme zusammenbrauen mit Blick auf die neue Saison 2020/21. Apropos: Ob diese pünktlich und vor Zuschauern beginnen kann, selbst das ist derzeit nicht mit Bestimmtheit zu sagen.

Szenario zwei - Die Saison wird vor Geisterkulissen zu Ende gespielt.

Es wäre die Variante, mit der die Fußball-Bundesliga heftig flirtet. Und das hat einen guten Grund, beziehungsweise viele: viele, viele harte Euro TV-Geld (insgesamt 370 Millionen), auf die so einige Klubs in der aktuellen Krise angewiesen sein dürften. Geld, welches so jedoch im Handball nicht existiert. Laut Zahlen der HBL aus der Vorsaison beträgt der Anteil der Fernseheinnahmen eines Zweitligisten an den Gesamteinnahmen durchschnittlich nicht einmal zwei Prozent, sie fallen unter die Kategorie Sonstiges. Geisterspiele stellen keine Rettungsleine für Handball-Klubs dar, anders als dies für den einen oder anderen Fußball-Klub sicherlich der Fall ist. Sie können sogar zur Gefahr werden.

Denn das Geld, das Tickets hereinspülen, macht andererseits einen maßgeblichen Anteil der Einnahmen eines Handball-Zweitligisten aus: In der vergangenen Saison waren es im Schnitt 18 Prozent, wobei es beim HSC, der aktuellen Nummer vier der Zuschauertabelle (im Schnitt: 2435), noch ein paar Pünktchen mehr sein dürften. Und so heißt es von der HBL auch: "Erlöse über Ticketeinnahmen sind anders als im Fußball von existenzieller Bedeutung."

Es drängen sich darüber hinaus Fragen auf, die starke Zweifel aufkommen lassen, ob die Saison überhaupt zu Ende gebracht werden könnte - und dann auch noch annähernd fair. Wie soll der Spielbetrieb aufrechterhalten werden, falls sich Spieler oder Trainer infizieren, ganze Mannschaften Quarantäne verordnet kriegen? Wie soll die Sicherheit sämtlicher Akteure gewährleistet werden? Wer kann garantieren, dass niemand auf der Platte das Virus unbemerkt in sich trägt, kein Ansteckungsrisiko besteht? Die Liste ließe sich zu einem ganzen Fragenkatalog fortsetzen.

Und selbst derartige Aspekte einmal ausgeklammert, wie einen sportlich fairen Wettbewerb herstellen? Die Hallen sind abgesperrt, Mannschaftstraining ist unmöglich, die Spieler können sich lediglich individuell fithalten. Daran dürfte sich auch eine ganze Zeit nichts ändern. Und was ist eigentlich, falls in einem Bundesland die Hallen früher wieder öffnen als in einem anderen?

Trotz alledem: Vollumfänglich auszuschließen ist Szenario zwei nicht. HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann rückte jüngst dem NDR gegenüber Geisterspiele in der 1. Liga dann auch in den Bereich des Möglichen. Zugegeben: Immerhin könnte die Saison so zu einem gewissen sportlichen Abschluss geführt werden. Und niemand müsste sich der Frage stellen, die in den folgenden zwei Szenarien verhandelt wird: Wie umgehen mit Auf- und Abstieg im Falle des Abbruchs?

Szenario drei - Die Saison wird vorzeitig beendet, der HSC steigt dennoch auf .

Es wäre eine Variante, mit der sich angesichts der Umstände der Zweitliga-Tabellenführer vermutlich gut arrangieren könnte. Wie könnte diese theoretisch ausgestaltet werden? Mutmaßlich nur durch eine Aufstockung des Oberhauses. Und zwar um jene beiden Mannschaften, die zur Zeit die 2. Liga anführen und somit die Aufstiegsränge einnehmen: Coburg und TuSEM Essen. Denn selbst das abgeschlagene Schlusslicht in Liga eins, die HSG Nordhorn-Lingen, könnte rein rechnerisch die Klasse noch halten.

In der 2. Liga würden damit zwei Plätze frei, und durch eine Aufstockung wie im Oberhaus von 18 auf wie noch vor einigen Jahren 20 Teams, könnten die Entscheidungsspiele der vier Drittliga-Staffel-Ersten um die eigentlich nur zwei Aufstiegsplätze entfallen. In der kommenden Saison 2020/21 könnte all dies dann wieder bereinigt werden.

Freilich eine sehr konstruierte Überlegung - doch hätte auf einer Silvesterparty ins neue Jahrzehnt wohl nicht einmal der betrunkenste Gast der Möglichkeit, die Welt stünde drei Monate später nahezu komplett still, auch nur eine minimale Chance gegeben.

Natürlich ist da aber die Frage, inwiefern solch ein Aufstieg sportlich gerechtfertigt wäre. Erst die Tabelle am Ende einer Saison lügt wirklich nicht mehr, im Falle der 2. Handball-Bundesliga die nach 34, nicht 24 Spieltagen.

Und dann kursieren da noch jene Aussagen von HBL-Geschäftsführer Bohmann im NDR: "Wenn eine Saison eliminiert wird, gibt es keine Auf- und Absteiger - das wäre eine Lösung, die stringent wäre." Eine Aufstockung der 1. Liga werde es nicht geben, das sei wegen der Erweiterung des Europapokals "undurchführbar". Basta?

Szenario vier - Die Saison wird vorzeitig beendet, der HSC steigt nicht auf.

Es wäre erstmal die sportliche Horror-Variante für die Handball-Stadt Coburg und den HSC, der zehn Spieltage vor Ende fünf Zähler Vorsprung aufweist zum ersten Nichtaufstiegsplatz, den der SC BBM Bietigheim belegt. Zugleich aber ist es das wohl wahrscheinlichste Szenario - jedenfalls diesem Gedankenspiel und dem Ausschlussprinzip nach.

Falls sich in den nächsten Tagen und Wochen die Zeichen dahingehend verdichten, dann muss auch der HSC, so unglaublich schwer es auch fallen mag, an einer schnellen Entscheidung interessiert sein. Denn umso früher Klarheit herrscht, umso schneller kann sich auch Coburgs Vorzeige-Klub auf die neue Lage einstellen und die neue Saison vorbereiten. Und den nächsten Versuch, in die 1. Liga zurückzukehren, nachdem eine Pandemie den bereits zum Greifen nahen zweiten Aufstieg ins deutsche Handball-Oberhaus einstweilen verhindert hätte.

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