Das Ukraine-Tagebuch „An jeder Ecke stehen Generatoren“

Thomas Simmler erlebt im Westen des Landes , wie die Angriffe der Russen auf die Energieversorgung zunehmend Spuren hinterlassen. Sogar die Züge haben Pause. Er selbst verzichtet bewusst auf einen Christbaum – das hängt auch mit seiner Mutter zusammen.

 
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Thomas Simmler Foto: privat

Jetzt bin auch ich erstmals ohne Strom. Seit vier Tagen muss ich immer mittags und nachmittags eine Weile ohne auskommen. Ich hänge bei der Versorgung ja am Bahnnetz. Deshalb wird in dieser Zeit der Bahnhof hier im Kurort Truskawez am Fuße der Karpaten von den Zügen nicht angefangen. Das ist aber nicht so dramatisch, weil die großen Verbindungen nicht berührt sind. Hier gibt es einen Kopfbahnhof. Die Züge müssen also auf der gleichen Strecke raus, wie sie reinkommen. Die täglichen Züge in die großen Städte Kiew, Charkiw und Dnipro fahren weiterhin – nur dazwischen ist der Strom abgeschaltet.Das Stadtbild wird geprägt von Generatoren. An jeder Ecke stehen welche. Das war vor ein paar Wochen noch ganz anders. Nun hat fast jedes Geschäft einen, um die ständigen Stromausfälle zu kompensieren. Es geht ja nicht nur ums private, sondern darum, den ganzen Wirtschaftskreislauf des Landes in Gang zu halten. Da werden die Probleme zunehmend größer.

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Generatoren sind natürlich sehr gefragt und man muss erst mal einen ergattern. Andrej, der Besitzer eines Tante-Emma-Ladens, hat mir zum Beispiel erzählt, dass er in England einen bestellt hat. Aber es gibt Lieferschwierigkeiten. Die andere Alternative sind Gasöfen. Nicht wie in Deutschland in den Wohnungen als Heizung, sondern zum Kochen. Auch das machen jetzt viele Ukrainer, um sich eine Suppe oder ein Schnitzel warm machen zu können.

In der Nähe von Marhanez, wo meine Tochter Sofia und ihre Mutter leben, hatten die Russen zuletzt einen perfiden Plan. Sie erzählten der ukrainischen Bevölkerung in der Nähe des besetzten Atomkraftwerks , dass sie auf dem größten Platz der Stadt humanitäre Hilfspakete verteilen . Sie hatten offenbar gehofft, dass die ukrainische Artillerie von der anderen Seite des Flusses den dann vollbesetzten Platz unter Feuer nimmt – als Reaktion auf eigene Angriffe. Partisanen haben die Ukrainer zum Glück gewarnt.

Das Verhalten der Russen hat mit Kriegsführung schon lange nichts mehr zu tun. Umso mehr ärgert es mich, dass die Bundesregierung nicht mehr tut und die ukrainische Armee viel stärker mit modernen Waffen ausstattet. So viel Leid könnte hier verhindert werden.

Die Tradition der Christbäume gibt es auch in der Ukraine. Ich selbst habe aber keinen in meinem Zimmer stehen. Ich erinnere mich da immer an meine Mutter. Wenn sie über den Krieg erzählte, sagte sie, „erst schickten sie bei Angriffen Christbäume, dann Bomben“. Ich werde Weihnachten mit dem ein oder anderen Besuch auf dem Markt hier begehen. Der dauert bis zum russischen Weihnachtsfest am 7. Januar. Egal, wann und wie die Menschen hier feiern: Jeder wird für Freiheit und Frieden beten. Ob der kommt? Wer weiß. Aber die Hoffnung haben die Ukrainer – genauso wie den Willen, sich weiterhin gegen die brutalen Angriffe der Russen zu wehren.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Westen des Landes untergekommen.