Das Ukraine-Tagebuch „Der Raketenradar auf dem Handy zeigt jedes russische Geschoss“

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Der Krieg ist immer präsent – zumindest digital. An der Entwicklung seines Wohnorts im Westen der Ukraine erlebt Thomas Simmler wie sich das Land vom russischen Erbe immer stärker freimacht.

 
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Thomas Simmler Foto: Alexander Wunner

Bin ich schon ein halber Ukrainer? Eine Bekannte, die mich in dieser Woche in Truskawez besucht hat, ist davon überzeugt. Lily ist Gymnasiallehrerin und wohnt 130 Kilometer weit weg. Sie war lange nicht da und völlig perplex, wie sehr sich die Stadt verändert hat. Wir sind überall herumspaziert. Das „alte Truskawez“ gibt es nicht mehr. Die Sanatorien aus der Sowjetzeit mit ihren gewaltigen Gebäudekomplexen stehen alle leer. Es ist wie auf dem Friedhof. Vor zehn Jahren habe ich dort noch überfüllte Läden und Restaurants erlebt, vor allem Russen haben dort „gekurt“. Jetzt sind alle weg. Die große Halle, in der die Gäste Naftusia, das im ganzen Land bekannte Heilwasser, getrunken haben, ist geschlossen.

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Ein paar Meter weiter ist alles anders. Dort steht ein topmodernes, neues Sanatorium. Mit der Sowjetzeit hat das nichts mehr zu tun. Und dann natürlich der Park, die Fußgängerzone und das ganze Drumherum dort. Das ist das neue, das europäische Truskawez. Alles ist lebendig, überall Cafes, dazu der Mix in der Architektur. Hier die restaurierten Gebäude, die an die Habsburger-Epoche erinnern, dort die Moderne. In dieser Stadt spiegelt sich ukrainische Geschichte und Gegenwart wieder. Das große Ganze wird im Kleinen sichtbar.

Lily und ich haben über alles gesprochen. Über den Krieg, die Hoffnungen, die Ängste der Menschen. Auch über die weniger schönen Seiten. Zum Beispiel über die Leute in der Westukraine, die ihre Häuser an Flüchtlinge aus dem Osten vermieten und nach Deutschland gehen, um dort auf Kosten des Staates zu leben. Das ist nicht die Mehrheit, aber auch so etwas gibt es.

Lily hat eine App auf dem Handy, die ich nicht kannte. Einen „Raketenradar“. Den hat ihr der Schwiegersohn installiert. Sie macht die App auf und kann sehen, wo und wohin in diesem Moment gerade russische Raketen über der Ukraine fliegen. Digitaler Krieg. Es wirkt wie ein Spiel und ist doch tödlicher Ernst.

Das Land wartet auf Regen. Während es bei uns am Fuße der Karpaten vorgestern Nacht gestürmt und geregnet hat und ganze Dächer weggeflogen sind, ist die Hitze im Osten unerträglich. Jeden Tag 35 Grad und mehr. Vor fast zehn Jahren habe ich das selbst erlebt. Da hat es von Mitte Mai bis September nicht einen einzigen Tropfen Wasser gegeben. Irina hat mir erzählt, dass die Tomaten in unserem Garten alle kaputt sind. So ist es überall.

In der Süddeutschen Zeitung erschien vor einigen Tagen eine ganze Seite über die Situation in dieser Region. Das nahe Atomkraftwerk, die ewigen Angriffe der Russen, die Kämpfe im Osten – alles wichtige Themen, aber eine alte Frau schildert in der Reportage eindrucksvoll, was die Leute dort gerade wirklich beschäftigt: Wann regnet es? Wie kommen wir an Wasser? Wie sind Obst und Gemüse zu retten? So komisch das klingt, aber das sind die konkreten Probleme. Und die sind näher als die gefährliche Lage am Atomkraftwerk. Die alte Frau erlebt dort das gleiche wie ich es im ersten Kriegsjahr auch empfunden habe. Für Außenstehende vielleicht verrückt. Aber so ist es.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit mehr als einem Jahr in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Kurort Truskawez im Westen des Landes untergekommen.