Das Ukraine-Tagebuch Olga und die Hölle von Mariupol

Was Krieg in seiner schlimmsten Ausprägung bedeutet, hat Thomas Simmler jetzt von einer Ukrainerin erzählt bekommen. Aus den Fängen der Russen entkam sie nur mit Hilfe eines Tricks – und dank einer abenteuerlichen Reise.

 
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Thomas Simmler Foto: Alexander Wunner

Olga kommt aus Mariupol. Sie sagt das fast beiläufig, als wir kürzlich auf einer Parkbank ins Plaudern kommen. Sie hatte am Handy russisch gesprochen – ein klares Indiz, dass sie nicht von hier stammte. In Truskawez im Westen des Landes reden die Einheimischen alle ukrainisch. Mariupol. Man zuckt zusammen. Drei Monate haben die Russen die Stadt belagert, die Infrastruktur brach zusammen. Niemand versorgte die Leute mit Essen oder Wasser. Man konnte nicht hinausgehen und welches holen. Zu gefährlich. Leid und Zerstörung.

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Vier Stunden lang haben wir miteinander gesprochen. Olga, die wohl etwa 40 Jahre alt ist, hat mir alles erzählt. Ihr Mann, der während der ersten Kriegsmonate an Herzversagen gestorben ist. Der Stress. Dann ihre abenteuerliche Flucht. Wie sie der Hölle entkommen ist, wollte ich wissen. Sie erzählte, dass eine Flucht nicht zu denken war. Man muss wissen: In Mariupol ist auf der einen Seite das Meer, auf der anderen Steppe. Die Russen schossen aus allen Rohren, verstecken wäre nicht möglich gewesen. Also ausharren. Als die Angreifer die Stadt eroberten, hat Olga für sich und ihre Mutter russische Pässe beantragt. Darauf waren die Russen ja ganz erpicht. Mit den Dokumenten haben sie es auf die Krim geschafft. Von dort nach Moskau, dann Istanbul und Bulgarien und schließlich Amerika. Dort aber wollte sie nicht bleiben. Also zurück nach Europa. Erst Dänemark und von dort wieder in die Ukraine. „Endlich ein bisschen Frieden, endlich daheim“, sagte sie auf der Parkbank. Das mit dem zu Hause stimmt zwar nicht ganz, aber in Truskawez sind sie und ihre Mutter sicher. Früher waren sie jedes Jahr hier. Urlaub. Die Menschen würden gar nicht wissen, was Krieg bedeutet. Immer mal eine Rakete, das war’s. Sie hat Recht.

Jetzt hat sie wieder den ukrainischen Pass beantragt. Dann schließt sich der Kreis. Nur so hat sie es rausgeschafft aus dem Albtraum Mariupol, wo die Russen alles zerstört haben, was die Menschen sich über Jahrzehnte aufgebaut hatten. Die Bilder gingen um die Welt. Olga hat sie in ihrem Kopf. Sie wird sie nie vergessen.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit Kriegsanfang in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er im Kurort Truskawez im Westen des Landes untergekommen.
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on dort berichtet er in dieser Kolumne regelmäßig aus dem Alltagder Menschen vor Ort.