Die grüne, gebildete Mitte
Dass die Menschen gegen rechts auf die Straße gingen, lobte nicht nur Bundeskanzler Olaf Scholz, sondern auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "Diese demokratische Mitte hat mit den Demonstrationen etwas erreicht", bilanzierte Steinmeier Mitte Februar. "Sie hat die Gleichgültigkeit vertrieben. Sie hat Mut gemacht. Wir atmen wieder freier." Und er verband das mit einem Appell: "Wirtschaft, Arbeit, Kultur, Zivilgesellschaft, Vereine und Verbände, alle sind gefragt. Wir brauchen den Schulterschluss der Demokraten. Nicht nur heute, sondern an 365 Tagen im Jahr."
Wer aus der "demokratischen Mitte" auf die Straße ging, dazu gibt es inzwischen erste Daten. Forscher der Universität Konstanz haben 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an drei Demos im Südwesten befragt, nämlich in Konstanz, Singen und Radolfzell. Zumindest dort galt: Eine Mehrheit (53 Prozent) ordnete sich selbst der mittleren Mittelschicht und ein Drittel der oberen Mittelschicht zu. Sechs von zehn Befragten besaßen einen Hochschulabschluss, 20 Prozent zumindest Abitur. Somit ergebe sich "eine demografische Schräglage zugunsten eines höher gebildeten Bevölkerungsabschnitts am oberen Ende der Mittelschicht", schließen die Autoren Marco Bitschnau und Sebastian Koos.
61 Prozent der Befragten hatten bei der vorigen Bundestagswahl Bündnis 90/Die Grünen gewählt, 18 Prozent die SPD und 8 Prozent die CDU. Doch waren es nicht Menschen, die ohnehin ständig demonstrieren: Zwei Drittel der Befragten hatten noch nie an einer Kundgebung mit ähnlicher inhaltlicher Ausrichtung teilgenommen. Viele seien schon länger besorgt gewesen über die Stärke der AfD - die Correctiv-Recherche über das Potsdamer Treffen habe dann das "Fass zum Überlaufen" gebracht, heißt es in der Studie.
"Erstmals ein deutliches Nein"
"Erstmals in zehn Jahren des Aufstiegs der AfD gab es jetzt ein deutliches Nein", sagt Daniel Mullis vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. In den Demonstrationen sieht er mehr als ein kurzes Aufbäumen. "Ich bekomme von vielen Gruppen und Organisationen die Rückmeldung, dass es vor Ort einen ordentlichen Zuwachs gibt, etwa bei den Omas gegen rechts", berichtet der Forscher. "Man hört an vielen Stellen, dass es Interesse gibt, sich in Strukturen einzubringen und sich gegen rechts zu engagieren."
So sieht es auch die Bewegung Fridays for Future, die vielerorts beim Organisieren der Demos gegen rechts half. "Sie haben vielen Aktiven vor Augen geführt, dass jahrelange Arbeit vor Ort keine vergebenen Mühen waren – und vielen Nicht-Aktiven, wie effektiv Engagement sein kann", meint Sprecher Pit Terjung. "Auf den Demonstrationen sind Akteure aus allen Ecken der Zivilgesellschaft zusammengerückt, wir erleben ein dynamisches Aufleben vieler neuer Initiativen, Bündnisse und Netzwerke." Aus Sicht der Aktivisten ist es also noch nicht vorbei, auch wenn nun nicht mehr Massen Straßen und Plätze füllen.
"Der Konflikt liegt jetzt auf dem Tisch", sagt Forscher Mullis. "Das vor Selbstbewusstsein Strotzende der AfD ist erstmal dahin. Aber die Konfliktlinien der Gesellschaft, die sozioökonomischen Tendenzen, die Abstiegsängste, die Fragen von Migration und Klimakrise bleiben." Seine Erwartung: "Es ist eine sehr langfristige Auseinandersetzung, vor der wir stehen. Konkret droht bei den anstehenden Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen eine sehr substanzielle Landnahme von rechts."