Trotz des Hilfseinsatzes klagten viele Betroffene in den sozialen Medien, sie warteten vergeblich auf Unterstützung bei der Suche nach Vermissten. Kritiker werfen den türkischen Behörden vor, Verstöße gegen Bauvorschriften zu ignorieren und damit Menschenleben zu gefährden. Bilder aus einigen betroffenen türkischen Städten zeigten, dass manche Wohnhäuser bei den Beben intakt blieben, während Gebäude unmittelbar daneben völlig zerstört wurden.
Die Behörden riefen die Menschen im Unglücksgebieten auf, trotz des schlechten Wetters – in Kahramanmaras regnete es bei sechs Grad – nicht in zerstörte Häuser zurückzukehren. Tausende Obdachlose sollten in Sporthallen, Moscheen und öffentlichen Sälen für Familienfeiern untergebracht werden; in den sozialen Medien boten zudem Menschen privat an, Erdbebenopfer in ihren Wohnungen aufzunehmen. Der Flughafen in Hatay am Mittelmeer musste wegen schwerer Schäden geschlossen werden, andere Flughäfen in der Region wurden für zivile Flüge gesperrt, um sie für die Ankunft von Helfern und Hilfsgütern freizuhalten.
Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien im Erdbebengebiet
Trotz des schweren Bebens blieb die Kommunikationsinfrastruktur im türkischen Unglücksgebiet weitgehend unzerstört. Die türkischen Behörden versuchten deshalb, moderne Kommunikationswege für die Rettungsarbeiten einzusetzen. Handynetze und Internet konnten im Katastrophengebiet kostenlos genutzt werden; das türkische Katastrophenschutzamt veröffentlichte ein Online-Formular, mit dem Betroffene staatliche Hilfe anfordern können. Nach dem Beben nahe Istanbul von 1999 war die staatliche Hilfsaktion für die Opfer erst mit mehreren Tagen Verspätung angelaufen, was viele Menschen das Leben kostete.
Auf der türkischen Seite der Grenze bebte die Erde von Adana am Mittelmeer im Westen bis nach Hakkari im äußersten Südosten der Türkei am Dreiländereck mit dem Irak und dem Iran. Insgesamt leben in der Region mehr als 15 Millionen Menschen, das sind knapp 20 Prozent der türkischen Bevölkerung. Einige Städte des Erdbebengebietes beherbergen Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien. In den betroffenen Gegenden von Syrien leben nach zwölf Jahren Krieg zwar weniger Menschen als auf der türkischen Seite der Grenze, doch leiden sie schon in normalen Zeiten unter Versorgungsmängeln. Der Syrien-Experte Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington erklärte, in der Wirtschaftsmetropole Aleppo, die zum Herrschaftsgebiet der syrischen Regierung gehört, seien zwei Drittel der Infrastruktur schon vor dem Erdbeben zerstört gewesen. Videos aus Aleppo vom Montag zeigten, wie Gebäude zusammenbrachen.
„Viele Familie sind noch unter den Trümmern begraben. Wir brauchen Hilfe.“
Ähnlich sah es in den Gegenden entlang der türkischen Grenze aus, die von Regierungsgegnern kontrolliert werden. Ein Sprecher der Hilfsorganisation Weißhelme meldete sich am Morgen per Video aus dem Rebellengebiet im Nordwesten Syriens. Hinter ihm war eine Straße zu sehen, in der alle Häuser zerstört waren. Die Weißhelme helfen normalerweise nach Luftangriffen der Syrer oder Russen. Am Montag waren sie im kalten Winterregen nach dem Erdbeben im Einsatz. „Hunderte Menschen sind tot, vielleicht Tausende verletzt“, sagte der Helfer mit brechender Stimme. „Viele Familie sind noch unter den Trümmern begraben. Wir brauchen Hilfe.“
In der Rebellenprovinz Idlib, in der drei Millionen Menschen Zuflucht vor der syrischen Regierungsarmee gefunden haben, und anderen Teilen Nordsyriens wohnten viele Menschen bisher in Zelten, in halb fertigen Häusern oder in den Ruinen zerstörter Gebäude. Viele Unterkünfte hielten dem Beben nicht stand. „Unsere Gesundheitsstationen sind voll mit Verletzten und den Leichen der Todesopfer“, sagte Fadi al-Dairi von der Hilfsorganisation Hihfad unserer Zeitung.
Deutschland und mehr als 40 andere Staaten boten der Türkei und Syrien ihre Hilfe an; darunter waren Griechenland und Armenien, deren Beziehungen mit Ankara gespannt sind. Die Europäische Union mobilisierte zehn Rettungsteams. Auch die Kriegsgegner Ukraine und Russland erklärten, sie seien zur Entsendung von Hilfe nach der Katastrophe bereit.