Swinemünde gehörte wie ganz Usedom und Wollin bis 1945 zu Deutschland. Die nach dem Zweiten Weltkrieg gezogene Oder-Neiße-Grenze trennte die Stadt vom Rest Usedoms ab. Seitdem ist sie polnisch.
In Deutschland sieht man den Swinetunnel keineswegs nur positiv. Zwar sind einstige Bedenken, man hole sich jede Menge Lkw-Durchgangsverkehr nach Usedom, einstweilen unbegründet. Selbst wenn in vermutlich fünf Jahren auch noch ein neuer Containerhafen mehr Frachtverkehr nach Swinemünde bringen wird: Die beiden Grenzübergänge sind auf deutscher Seite für schwere Fahrzeuge gesperrt, auf der B 110 beträgt das Höchstgewicht 7,5 Tonnen, über Ahlbeck ist schon bei 3,5 Tonnen Schluss. Daran soll sich auch bis auf Weiteres nichts ändern. „Wir gedenken nicht, diese Tonnage-Beschränkungen aufzuheben“, betonte Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) im Oktober. „Das heißt, Lkw haben dann keine Möglichkeit, diese Straßen zu benutzen.“
Allerdings ist der neue Tunnel nicht nur für ost- und süddeutsche Usedom-Urlauber und für die Swinemünder selbst attraktiv, sondern für weitere Gruppen von Autofahrern. Auf dem Weg von Hamburg, Nordwestdeutschland und auch von Rügen an die polnische Festlands-Ostsee Richtung Danzig erspart er den bisherigen Umweg über Stettin. Als ausgemacht gilt daher, dass der Tunnel noch mehr Autoverkehr nach Usedom bringt. Großartig mit Straßenausbau reagieren will man auf deutscher Seite indes nicht. Immerhin soll nun eine Ortsumgehung der Bundesstraße 110 im schon jetzt stark belasteten grenznahen Zirchow forciert werden. Zwei Kreisverkehre sollen entstehen und die B 110 nach Anklam verbreitert werden, heißt es. Mehr nicht. Die Opposition im Schweriner Landtag wirft der SPD-geführten Landesregierung angesichts dessen vor, die Entwicklung verschlafen zu haben. Die wiederum folgt mit dem Verzicht auf allzu große Ausbaumaßnahmen einer Warnung von Gutachtern: Je besser die Straßen auf deutscher Seite, desto mehr Durchgangsverkehr von und nach Polen auf der Ferieninsel würde es geben.
Konkurrenz für deutsche Badeorte
Viel schwerwiegender sind aber die Befürchtungen in Vorpommern, künftig noch mehr Ostseeurlauber an die polnische Konkurrenz zu verlieren. Schon jetzt sind Feriengäste in wenigen Minuten von den deutschen Seebädern aus in Swinemünde. Längst sind Strand und Promenade dort grenzenlos, die einst graue und industriegeprägte Hafenstadt putzt sich mehr und mehr heraus. Sie bietet zwar nicht das edle Ambiente der deutschen Kaiserbäder, aber dafür das sonst auf Usedom vermisste urbane Flair. Künftig werden auch die polnischen Seebäder auf Wollin und auf dem Festland nur noch einen Katzensprung von Usedom entfernt sein. Küstenziele wie Misdroy, Międzywodzie (Heidebrink) oder Kolberg werden bereits seit Jahren bei kostenbewussten Deutschen immer beliebter. Zwar sind die Preise auch in Polen zuletzt stark angezogen. Ein Ostsee-Urlaub ist dort aber nach wie vor weit billiger als in Deutschland. Auch wenn etwa Jan Pawełczyk, Hotelier in Swinemünde in einem Interview beschwichtigt, Preisunterschiede seien kein echtes Argument mehr. „Das gleicht sich an“, meint er.
„Einige deutsche Touristen werden definitiv die Entscheidung treffen, weiter nach Kolberg, Misdroy oder Stettin zu fahren“, sagt indes der Swinemünder Stadtpräsident Janusz Zmurkiewicz in einem Gespräch mit der „Ostsee-Zeitung“ (OZ) voraus. Umgekehrt seien aber auch viele Polen neugierig auf die deutsche Ostsee, die sie durch den Tunnel schneller erreichen könnten. Für den Bürgermeister der bislang vom Rest Polens abgeschnittenen Stadt erfüllt das Projekt einen politischen Lebenstraum. Und es weckt weitere Träume. Swinemünde möchte die jährliche Zahl der Übernachtungen von jetzt 1,5 auf 2,5 Millionen erhöhen. Zum Vergleich: Die drei deutschen Kaiserbäder Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck zusammen hatten vor Corona zuletzt rund 3,7 Millionen Übernachtungen im Jahr.
Kaiserbäder-Kurdirektor Thomas Heilmann sieht den Tunnel daher vor allem als Herausforderung. Man werde durch Qualität gegenüber der polnischen Konkurrenz punkten. „Wenn Berliner, Brandenburger und Thüringer den bequemeren Weg nehmen und durch den Tunnel fahren, dann müssen wir ihnen die Argumente liefern und besser sein, damit sie halt die drei Kilometer weiterfahren“, sagte er schon zu Baubeginn. Seine Prognose: „Wenn wir nichts tun, verlieren wir mit dem Swinetunnel zehn Prozent der Urlauber an unsere Nachbarn.“
„Wir werden Gäste verlieren“, zitiert die OZ auch André Domke, den Chef einer inselbekannten Fischrestaurantkette. Weil die Polen viel investieren, sei dort vieles neuer und lebendiger. Und viel preisgünstiger. „Wenn die Leute noch schneller dahin kommen, wird das schwer für uns“, sagt Domke. „Das wird hier alles verändern.“ Andere Deutsch-Usedomer sind da optimistischer: „Wir werden gemeinsam als Region wachsen. Bessere Erreichbarkeit ist für alle ein Vorteil“, sagt eine Insel-Unternehmerin.
Egal ob Chance oder Risiko: Der Swinetunnel bringt auch die Frage der Bahnanbindung der Ostseeinsel wieder auf die Tagesordnung. Zwar betreibt die Usedomer Bäderbahn (UBB) an der Küste einen Stundentakt mit modernen Regionalbahnen. Die Züge fahren sogar seit 2018 bis über die Grenze zum neuen Bahnhof Świnoujście-Centrum. Allerdings im Bimmelbahntempo. Für Fernreisende ist die Anbindung erst recht viel zu langsam und umständlich. Von Berlin aus muss man einen weiten Umweg über Wolgast nehmen und überdies in Züssow umsteigen, von wo man nochmals 75 Minuten bis Heringsdorf braucht. Bei der alternativen Variante über Stettin endet die – ebenfalls nicht allzu schnelle – Bahnstrecke auf der Ostseite Swinemündes. Auch künftig, denn im Swinetunnel gibt es keine Bahnröhre. Nach Usedom geht es für Zugfahrer, Fußgänger und Radfahrer weiter mit der innerstädtischen Swinefähre, die bestehen bleibt.
Auch bei der Bahn gibt es Pläne
Seit Jahrzehnten gibt es Überlegungen, die kürzere deutsche Bahnverbindung über den Süden der Insel nach Swinemünde wiederzubeleben. Bis 1945 setzten die Züge über eine Hubbrücke in Karnin vom Festland über; die einzigartige Konstruktion ist seit Kriegsende nur noch eine Ruine. Die Gleise sind längst abgerissen und auf polnischer Seite sogar städtisch überbaut.
Am 9. Januar nun hat die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns erstmals den Wiederaufbau dieser Alt-Strecke auf die politische Tagesordnung gesetzt und eine Wirtschaftlichkeitsberechnung angekündigt. Bereits in anderthalb Jahren soll eine konkrete Vorplanung vorliegen mit dem Ziel, in den 2030er Jahren wieder Züge rollen zu lassen. Favorisiert wird ein fünf Kilometer langer neuer Abzweig von der einstigen Trasse, die dann nicht mehr über heute polnisches Gebiet führen und stattdessen in Heringsdorf auf die UBB-Strecke Züssow–Swinemünde treffen würde. Das Nachbarland halte einen Wiederaufbau der überbauten Gleise in Swinemünde für unrealistisch, heißt es in der Mitteilung des Schweriner Wirtschaftsministeriums. Dort rechnet man samt einer neuen oder sanierten Haffbrücke mit Kosten von 700 Millionen Euro. Kritiker bezweifeln, dass diese Investition sich rechnet, zumal es ohne grenzüberschreitenden Verlauf keine EU-Fördermittel gibt, und schlagen stattdessen den Ausbau der Verbindung über Wolgast vor. So oder so würde es viele Jahre dauern, bis die Gleise liegen.
Mit dem Wiederaufbau der Strecke würde sich die Reisezeit per Bahn von Berlin in die Dreikaiserbäder fast halbieren, von jetzt knapp vier auf rund zwei Stunden. Addiert man die drei Stunden dazu, die die Fahrt aus Coburg oder Suhl nach Berlin dauert, wäre man dann in der fernen Zukunft in fünf Stunden mit dem klimafreundlichen Zug an den östlichen Stränden Usedoms. Eine Fahrzeit, die auch der neue Swine-Straßentunnel wohl nicht toppen kann.
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