In der Migrationspolitik und besonders im Rahmen des 2016 abgeschlossenen Migrationsdeals mit Ankara zählt die EU unter anderem auf die Türkei als Partnerin, um Geflüchtete an der Weiterreise in Richtung Europa zu hindern. Im vergangenen Jahr hatte sich zudem der Streit zwischen Griechenland und der Türkei wegen umstrittener Erdgasforschung Ankaras im östlichen Mittelmeer gefährlich zugespitzt. Die EU hatte der Türkei im Dezember scharfe Sanktionen angedroht. Ankara beendete später die umstrittenen Erdgaserkundungen und signalisierte Gesprächsbereitschaft.
Die Türkei hatte zuletzt mit einer Reihe innenpolitischer Entwicklungen international für Empörung gesorgt: Der zweitgrößten Oppositionspartei, der pro-kurdischen HDP, droht ein Verbot, zahlreichen Oppositionspolitikern soll der Abgeordnetenstatus aberkannt werden. Das Land war außerdem aus einem internationalen Abkommen zum Schutz von Frauen ausgetreten.
Auch vor diesem Hintergrund wurde der Besuch von vielen Seiten kritisch kommentiert. Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen teilte anlässlich der Reise mit: "Wer in diesen Tagen zu politischen Gesprächen in die Türkei reist, sollte die unzähligen politischen Gefangenen, darunter dutzende Deutsche, in den Knästen der Türkei besuchen statt Autokrat Erdogan im Palast die Aufwartung zu machen!" Auch Cem Özdemir kritisierte den Besuch in Ankara als "Brüsseler Selbstverzwergung" und "Hohn für alle Demokrat*innen der Türkei."
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommentierte: "Je dreister der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird, desto ruhiger wird die Europäische Union." Diese sollte ihren Ansatz dringend überprüfen und sichtbare Fortschritte in Sachen Menschenrechte an die Aufnahme von Gesprächen über eine Zollunion knüpfen. Eine "positive Agenda", die gegen EU-Werte verstoße, sei nicht positiv.
Von der Leyen und Michel betonten hingegen, dass die "positive Agenda" aus ihrer Sicht einen harten Kurs in anderen Fragen nicht ausschließe. Menschenrechtsfragen seien "nicht verhandelbar", sagte von der Leyen mit Blick auf den in der Türkei inhaftieren Kulturmäzen Osman Kavala und den ehemaligen pro-kurdischen Oppositionsführer Selahattin Demirtas. Die Türkei müsse Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte umsetzen.
Kavala sitzt seit November 2017 in Untersuchungshaft, Demirtas ist seit November 2016 im Gefängnis. In beiden Fällen hatte die Türkei Urteile des EGMR zur Freilassung nicht umgesetzt, obwohl sie als Mitglied des Europarats eigentlich an die Urteile gebunden ist.
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