Burgkunstadt - "Die Welt ist ein Text". Martin Walser hat diesen wunderbaren Satz versteckt unter den vielen anderen wunderbaren Sätzen seines aktuellen Romans "Muttersohn", und Dieter Borchmeyer, der Literaturprofessor, möchte seinem Duz-Freund zu gerne eine Exegese dieses Diktums entlocken. Aber der Autor scheint nicht sonderlich erpicht auf Deutungen in eigener Sache - gleichgar, wenn sie einem Mann des Wortes so offenkundig, so profan erscheint: "Alles, was es gibt, ist Text. Basta".

Es ist schon das zweite Basta an diesem Samstagnachmittag in Burgkunstadts alter Vogtei, die dem Ansturm der Literaturfreunde und Walserjünger kaum gewachsen ist bei dieser letzten Lesung der Festspiele "Lied & Lyrik". Sie führt zwei zusammen, die ein eingespieltes - jedoch nicht immer einvernehmliches - Team sind: Selbst in China und Chicago haben Walser und Borchmeyer, der Großautor und der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, schon öffentlich über Walsers Bücher räsoniert. Dabei geht es - bei einem guten Schoppen - entspannt zur literarischen Sache.

Faszinierender Sonderling

Mit dem ersten Basta bändigt Walser allzu rationale Spekulationen über die unbefleckte Zeugung seines Romanhelden Percy Schlugen, der in und aus der Überzeugung lebt, im Schoss seiner Mutter ohne jede männliche Beteiligung gereift zu sein. "Diese Vorstellung ist ihm einfach lieber" erklärt Walser - und bemerkt trocken: "Wichtig ist doch, was herauskommt, nicht, wie es hineinkommt".

Heraus kam in diesem Falle eine "Figur aus einem anderen Stoff", wie es der Autor umschreibt. Ein faszinierender Sonderling, ein Charismatiker mit jesuhaften Zügen, den Walser in den Mittelpunkt seiner Burgkunstadter Lesung rückt. Wir lernen einen Träumer und Provokateur kennen, der von der Mutter zum "Engel ohne Flügel" verklärt wurde, und der sich zeit Lebens geleitet fühlt. Einen der seinem Lebensretter nicht etwa dankt, sondern gratuliert. Einen, der von einem "Zuviel-Gefühl" beseelt die Menschen mit Spontan-Predigten in den Bann zieht. Einen, der mit drewermannschem Gleichmut Talkmasterinnen in die Kapitulation treibt. Einen, der aus lauter Überlust den Zölibat wählt, weil er sich für keine Frau entscheiden könnte ("keusch sein heißt geil sein"). Einen, dem Sätze entweichen, "die weitergehen als ich selbst".

Wissen hinterfragen

Die Jesus-Parallele, die er mit diesem Percy natürlich beschwört, wehrt Walser ab im Gespräch mit Borchmeyer, auch teilt er nicht dessen Einschätzung, in keinem Walser-Buch zuvor habe Theologie eine solch große Rolle gespielt wie hier: "Das ist nicht die Stimmung" korrigiert der Literat. Und kündigt an: "Mein nächstes Buch wird theologiesüchtig".

Um Glaube freilich geht es ganz zentral in "Muttersohn", diesem von Lesern und Kritik einhellig gelobten sprachmächtigen "Erleuchtungsbuch".

"Glauben heißt, Berge besteigen, die es nicht gibt" formuliert Walser, ohne daraus schlusszufolgern, es lohne die Strapazen des Aufstiegs nicht: "Glauben ist unsere wichtigste Fähigkeit", betont der Schriftsteller, dessen Roman sich laut Borchmeyer auch als "Plädoyer für die Unerklärbarkeit", für lesen lasse, als erkenntniskritischer Appell, jede vermeintliche Gewissheit in Frage zu stellen. Letztendlich basiert ja auch jede Wissenschaft auf Glaubens-Axiomen - und da ist Walser "die Genesis lieber als der Urknall. Sie ich einfach schöner".