Berlin - Peter Sloterdijk ist noch nie einem Streit aus dem Weg gegangen. Zuletzt sorgte der wortmächtige Karlsruher Philosoph mit seiner Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und seinem Schlagabtausch mit SPD-Chef Sigmar Gabriel um die AfD für Aufsehen. In seinem neuen Buch "Das Schelling-Projekt" geht der 69-Jährige jetzt - ja, richtig gelesen! - dem Phänomen des weiblichen Orgasmus nach. Und auch das dürfte einige Diskussionen auslösen.

Das für Sloterdijk-Verhältnisse mit 250 Seiten schmale Bändchen ist Briefroman, Sexgeschichte und Wissenschaftssatire in einem - aber leider nichts davon wirklich überzeugend. Es geht um fünf Menschen in der zweiten Lebenshälfte, die gemeinsam die "biosozialen Prämissen des weiblichen Sexualerlebens in der Zeitspanne zwischen der Altsteinzeit (bzw. dem Mittelpaläolithikum, 200 000-40 000 Jahre) und der Gegenwart" erforschen wollen. Besonderer Schwerpunkt soll die spekulative Naturphilosophie des spätidealistischen Denkers Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) sein.

Für den Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft Bonn um staatliche Förderung schließen die Gesinnungsgenossen sich mit E-Mails kurz. Bisweilen verspricht es vergnüglich zu werden, wenn ihr vereinbartes Ehrlichkeitsgelübde - jeder weiß von jedem alles - zu immer neuen Volten in den erotischen Befindlichkeiten führt, doch Witz und Ironie bleiben zu oft auf der Strecke.
Das fängt schon mit den lächerlich anzüglichen Namen an, die das Personal verpasst bekommt: Unter Anleitung des schulmeisterlichen Projektleiters Peer (!) Sloterdijk agieren Beatrice von Freygel, Desiree zur Lippe, Kurt Silbe und Guido Mösenlechzner. Wen wundert's, dass solche Frauen "tropfen wie ein Kieslaster", in Zustände geraten, "bei denen das Zählen aufhört" oder sich von vier Möbelpackern gleichzeitig die "Öffnungen fortwährend mehrfach belegen lassen".
Die Männer entdecken wahlweise ihre Homosexualität oder berichten in extenso von seltsamen Sexspielen in der indischen Urschrei-Szene der ach so freien 68er-Jahre. "Vögeln ist wie Hobeln, die Späne fallen, die Widerstände mit ihnen", weiß die sogar untenrum orange gefärbte Kursleiterin Mira.

Den größten Einwand gegen seinen Roman nimmt Sloterdijk wohlweislich selbst vorweg. "Schon höre ich Feministinnen alter Schule heulen: 'Die Männerphantasien schlagen zurück'", lässt er einen seiner Protagonisten sagen. Doch damit ist der Vorwurf nicht entkräftet. Vieles, was der hochmögende Philosoph und Schriftsteller, einst Star der ZDF-Talkshow "Das Philosophische Quartett", hier auftischt, hat den faden Beigeschmack des Altherrenwitzes.
In einem Mittelteil, dem "Protokoll" des einzigen leibhaftigen Treffens der Fünferbande, packt der Autor dann behende das Besteck aus, für das er in seinen vorausgegangenen Mammutwerken - von der "Kritik der zynischen Vernunft" bis zu seinen Tagebüchern - immer wieder gerühmt wurde. Er nutzt seinen Forschungsgegenstand für einen stilistisch atemberaubenden Parforceritt durch die europäische Ideengeschichte.

Es geht um die Frage, wie es von der reinen a-tergo-Begattung (von hinten) zum face-to-face-Liebesspiel kommt, wie der Bogen von der "apathischen Beckenschaufel der Afrikanerin" aus Urzeiten bis zum Schreien seiner Liebsten heute verläuft.
Für diese "Orgasmogenese" werden all seine Großen befragt - Nietzsche und Heidegger, Herder und Bloch, Fichte und natürlich Schutzparton Schelling. Doch das Pointenfeuerwerk wird so rasant abgefackelt, dass der normalkundige Leser kaum hinterherkommt. Selbst die Schriftführerin vermerkt: "Die Runde redet seit einer Weile, als habe man einen Joint kreisen lassen."
Erschwerend kommt hinzu, dass auch die E-Mails unter den Freunden allesamt dem furiosen Sloterdijkschen Duktus folgen und kaum Nuancen für das Profil der unterschiedlichen Mitstreiter lassen. Die ersten Reaktionen auf das schon 2015 bei der Frankfurter Buchmesse in Auszügen vorgestellte Werk sind deshalb recht unterschiedlich.
"Der Roman gehört wohl zum Lockersten, Vergnüglichsten, was Sloterdijk je geschrieben hat", urteilte die Berliner Tageszeitung taz. Der Spiegel befand dagegen: "Der Kontrast zwischen der Ambitioniertheit des literarischen Unternehmens und seiner sprachlichen und inhaltlichen Tatsächlichkeit ist niederschmetternd."
Natürlich lehnt die Forschungsgemeinschaft am Schluss in ihrer "Bonner Dumpfheit" den luziden Antrag der Fünferbande ab. Die Helden verfolgen ihr Thema nun ohne die Fesseln der deutschen Wissenschaftsbürokratie auf je unterschiedliche Weise weiter. Peer Sloterdijk etwa beginnt mit der Niederschrift einer Oper, die die Erkenntnis des althellenischen Sehers Teiresias in den Mittelpunkt stellt, wonach "die Lust der Frau neunmal größer ist als die des Mannes". Es kann also noch einiges an Erkenntnissen folgen.