Erst Pragsdorf und Offenburg, dann Oberhausen und jetzt Wuppertal. Was ist los in Deutschland? Was ist los mit „der“ Jugend? Wird sie immer rücksichtloser? Werden jugendliche Straftäter zunehmend brutaler?
An einem Wuppertaler Gymnasium gibt es einen Polizeieinsatz. Ein 17-Jähriger hatte mehrere Mitschüler mit Stichwaffen attackiert und schwer verletzt. In Oberhausen werden zwei junge Ukrainer von vier Teenagern ebenfalls mit Messern getötet. Ein Kinder- und Jugendlichen-Therapeut warnt vor zunehmender Brutalität unter Heranwachsenden. Was ist dran an dr These, dass Deutschlands Jugend immer brutaler und gewalttätiger wird.
Erst Pragsdorf und Offenburg, dann Oberhausen und jetzt Wuppertal. Was ist los in Deutschland? Was ist los mit „der“ Jugend? Wird sie immer rücksichtloser? Werden jugendliche Straftäter zunehmend brutaler?
Nach der Werbung weiterlesen
Die Amoktat am Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium ist aus Sicht des Kölner Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten Christian Lüdke ein Beispiel für zunehmende Gewaltdelikte unter gleichaltrigen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen.
Zwar zeigten die polizeilichen Kriminalstatistiken keinen drastischen Anstieg bei der Gesamtzahl solcher Fälle. Allerdings nehme die Brutalität und der Einsatz von Messern und anderen Waffen zu, sagt Lüdke.
Die bei dem Gewaltexzess verletzten Schüler sind inzwischen alle außer Lebensgefahr. Das hat ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am Freitag (23. Februar) mitgeteilt. Ein 17-jähriger, nach ersten Erkentnissen offenbar psychisch gestörter Oberstufenschüler soll am Donnerstag (22. Februar) am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium mit Stichwaffen auf seine Mitschüler losgegangen sein.
Danach soll er sich selbst lebensgefährlich verletzt haben. Die Polizei hatte Amokalarm ausgelöst. Die Schule wurde abgeriegelt, evakuiert und mit schwer bewaffneten Spezialkräften durchsucht, weil zunächst nicht klar war, ob es weitere Täter gibt. Was mit dem Verdächtigen geschehe, sei nun Sache des Gerichts, hieß es.
Nach Aussage von Christian Lüdke gibt es häufig schon sehr früh Indizien in der Familie, wenn ein Kind abdriftet. „Zunächst, dass Kinder entweder sehr ruhig sind, verstummen, wenig soziale Kontakte haben oder relativ früh schon sehr aggressiv sind, teilweise dann Gewalt verherrlichen“, beschreibt der Trauma-Therapeut solche Verhaltensauffälligkeiten. Leider werde darauf häufig nicht reagiert, so Lüdke.
Tatsächlich sei schon das Elternhaus ein großer Risikofaktor bei der Entwicklung gewalttätiger Kinder, erklärt Lüdke, der auch als psychologischer Ausbilder von Spezialeinheiten der nordrhein-westfälischen Polizei gearbeitet hat. „Häufig haben solche Jugendliche Eltern, die selbst Gewalt tolerieren oder selber sehr aggressiv sind.“
In diesen Familien gebe es oft keine starke emotionale Bindung, sodass die Kinder häufig kein Mitgefühl für andere entwickeln könnten. „Von daher verfallen sie dann in eine Art gefühlsmäßige Vollnarkose“, betont der Experte. „Sie fühlen sich ohnmächtig und durch die Gewaltausübung verwandeln sie das Gefühl von Ohnmacht in ein kurzzeitiges Erleben von Allmacht. Im schlimmsten Fall nach dem Motto: Ich bin Herr über Leben und Tod.“
Auch wenn solche tödlichen oder fast tödlichen Fälle immer für Schlagzeilen und Entsetzen sorgen: Mord und Totschlag sind seltene Delikte in der Jugendkriminalität.
„Insgesamt wurden 2022 in ganz Deutschland bei Mord und Totschlag 513 vollendete und 1723 versuchte Fälle von der Polizei registriert“, berichtet Klaus Boers vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster. Von den ermittelten Tatverdächtigen sei ein Viertel im Alter zwischen 8 bis 20 Jahren.
Generell ist laut Boers spätestens seit Mitte der 2000er Jahre die Jugendgewalt stark zurückgegangen. „Das Phänomen wird ‚Crime Drop‘ genannt und ist auch international zu beobachten.“ In Deutschland sei die polizeilich registrierte Jugendgewalt im Jahr 2022 zum ersten Mal seit langem gestiegen. „Ob das eine Eintagsfliege oder eine Trendwende ist, können wir erst in zwei, drei Jahren sagen“, erklärt Boers. Verglichen mit den 1990er Jahren bewege sich die Jugendkriminalität aber noch immer auf einem niedrigen Niveau.
Ob ein junger Mensch gewalttätig werde, hänge ganz wesentlich von seiner Sozialisierung ab. Einfluss auf das Verhältnis zu Gewalt habe neben Freundeskreisen und Lehrern vor allem das Elternhaus. „Wenn Kinder geschlagen werden, verstehen sie Gewalt unter Umständen als Mittel der Kommunikation“, sagt Boers. Bei den Eltern und in der Schule lerne ein junger Mensch soziale Normen. „Also, was erlaubt ist und was nicht.“
Grundsätzlich sei man in der Pubertät am gefährdetsten, um in die Kriminalität abzurutschen, führt der Experte. weiter aus Zwischen 12 und 16 Jahren seien junge Menschen in einer sensiblen Lebensphase. Ab Mitte des Jugendalters werde es in der Regel wieder weniger kritisch.
Brutale Fälle wie in Offenburg und Wuppertal könnten nicht verhinder werden, betont der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand. Er lobt aber Schritte wie die Notfallpläne, die nach dem Amoklauf in Winnenden 2009 von Schulen aufgestellt wurden. „Wichtig ist es, so gut wie möglich präventiv zu arbeiten.“ Sozialarbeiter und Schulpsychologen seien wichtige Pfeiler, um auf die Kinder und Jugendlichen zuzugehen und Problemfälle früh zu erkennen.
Körperverletzung mit Messer
Der Strafrahmen für Körperverletzungen mit einem Messer ist nach Einschätzung des Bundesjustizministeriums ausreichend. Demnach können gefährliche Körperverletzungen, die mit einem Messer begangen werden, nach Strafgesetzbuch (StGB) mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe sanktioniert werden. Als Mindeststrafe sieht Paragraf 224 StGB Freiheitsentzug von sechs Monaten vor. In minder schweren Fällen liegt der Strafrahmen zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Laut Ministerium gibt das den Gerichten die Möglichkeit, solche Gewalttaten konsequent und angemessen zu ahnden.
Strafrahmen
Dem Justizministerium zufolge ist es „rechtssystematisch problematisch“ für eine Körperverletzung mit einem Messer einen schärferen Strafrahmen vorzusehen als für die Begehung mit einer anderen Waffe oder einem anderen gefährlichen Werkzeug, „beispielsweise einer zerbrochenen Flasche“.
„Gefährliches Werkzeug“
Konkret ist in Paragraf 224 auch nicht von Messern als Tatwerkzeug die Rede, stattdessen ist dort unter anderem der Einsatz einer „Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs“ aufgeführt. Wenn der Täter den möglichen Tod des Opfers billigend in Kauf nimmt, kommt zudem eine Strafbarkeit wegen eines versuchten Tötungsdelikts in Betracht.