Zwei Diktaturen
Ursachen für diese Zahlen liegen auch in der Vergangenheit. Die beiden antireligiösen Diktaturen der Nationalsozialisten und der SED hinterließen im 20. Jahrhundert ihre Spuren. "Die SED-Regierung hat versucht, die Kirche zurückzudrängen, man konnte auch sehr einfach aus der Kirche austreten", erklärt der Religions- und Kirchensoziologe Gert Pickel. So war der Kirchenkontakt vieler Menschen in der DDR überschaubar. Die Enkel dieser Generationen haben Pickel zufolge quasi keine Berührungspunkte mehr zu Religion.
Dazu kommen allgemeine Entwicklungen: Im Osten wie im Westen ziehen Menschen häufiger um als früher, sie hängen weniger an ihrer Kirchengemeinde. "Sonntagsmorgens verbringt man die Zeit vielleicht lieber mit der Familie, geht in den Zoo, ins Museum oder zum Sport statt in die Kirche", sagt Pickel. "Die Bedeutung von Religion nimmt einfach ab", sagt Kirchenhistoriker Seiler.
Eine 2019 veröffentlichte Studie der Universität Freiburg prognostiziert, dass die Zahl der Kirchenmitglieder deutschlandweit bis 2060 auf 22,7 Millionen schrumpft, also etwas mehr als halb so viele wie 2022. Im Osten Deutschlands werden die beiden großen christlichen Kirchen demnach dann nur noch 1,5 Millionen Mitglieder haben. Überleben könnten die Kirchen nach Seilers Erwartung trotzdem. "Wenn wir weiter ein Kirchensteuermodell und mit Staatsleistungen mitfinanzierte Kirchen haben, dann wird dieses Kirchensystem strukturell nicht zusammenbrechen", meint der Professor.
"Eine solidarische, bessere Welt"
Eine Aufgabe für die Kirche sieht der Historiker nicht nur in der Seelsorge, sondern auch im gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb sollten sich die Organisationen nicht weiter in innerkirchlichen Themen verfranzen. "Wenn Kirche nicht mehr für die Menschen da ist, um eine solidarische, bessere Welt zu schaffen, dann braucht man sie nicht mehr so öffentlich gefördert, wie wir sie haben", sagt Seiler.
Die großen gesellschaftlichen Fragen sind es wohl auch, die viele zum Katholikentag ziehen: 20.000 Menschen werden erwartet, darunter viele Promis - vom Bundespräsidenten bis zum Kanzler. "Dass der Katholikentag in der Zeit des Krieges Frieden in den Mittelpunkt stellt, greift die Sehnsucht und Hoffnung vieler Menschen auf", sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf die Frage, warum er nach Erfurt fährt. Viele suchten eine Perspektive auf Frieden. "Diesen Wunsch habe auch ich. Frieden bedeutet dabei Arbeit, Frieden ist eine Aufgabe, die Diplomatie und Aussöhnung einschließt, aber Naivität ausschließt."