Kronach/Coburg - Silvester Kohlmann ist an Allerheiligen im Kronacher Festungswald mit einer Gruppe von Mountainbikern unterwegs. Gegen 13 Uhr legen die Geländeradfahrer oberhalb des Gefängnisses eine Pause ein. Ein Polizeihubschrauber
schwebt von Süden heran. „Wir haben uns nichts dabei gedacht“, sagt Kohlmann am Mittwoch. Selbst die ungewöhnlich hohe Zahl an Polizeiautos, die vor dem Gebäude stehen, sorgt bei den Radlern nicht für Verwunderung, ergänzt Thomas Geiger. Doch plötzlich klettert jemand aus einem Dachfenster der Justizvollzugsanstalt (JVA).

Die Mountainbiker beobachten die Szenerie. „Und da ist uns der Strick aufgefallen, der
vom Dach hing“, sagt Silvester Kohlmann. Niemand habe dann etwas erklären müssen. „Das ist ja der klassische
Ausbruch. Wir haben uns nur gefragt, wieso der Ausbrecher sich in den Innenhof abgeseilt hat. Auf der anderen Seite wäre er direkt auf der Straße gelandet.“ Die Mountainbiker überlegen, ob ihnen im Festungswald etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. „Wir wussten ja nicht, wer da wann ausgebrochen ist. Dass aber jemand auf der Flucht ist, das war uns schon klar“, berichtet Silvester Kohlmann.

Zu Hause angekommen, schaut er in der Gartenhütte sofort nach dem Rechten. „Man macht sich schon Sorgen.“ Anschließend liest er im Internet die Nachricht, dass zwei Häftlinge aus der JVA Kronach geflohen sind. Nun weiß der Sportler einzuordnen, was er gesehen hat.

Zu dieser Zeit fahndet die Polizei bereits fieberhaft nach dem 39 Jahre alten Raimondos L. aus Litauen und dem 41-jährigen Krzysztof P. aus Polen. Sie sitzen wegen Diebstahls in Untersuchungshaft. Der eine war in Hof festgenommen worden, der andere in Coburg. Ihnen werden unter anderem Aufbrüche zur Last gelegt, erläutert Anton Lohneis, Leitender Oberstaatsanwalt in Coburg. Einer der Flüchtlinge ist schlank, der andere athletisch gebaut – die Voraussetzung dafür, dass sie in der Nacht zum Feiertag Allerheiligen eine „bauliche Schwachstelle“ in der Kronacher JVA ausnutzen können, über die sie den Dachboden erreichen. Durch ein Fenster steigen sie aufs Dach und seilen sich ab – ganz klassisch mit zusammengeknoteten Bettlaken, wie am Nachmittag aus Polizeikreisen bestätigt wird.
Die Flucht wird erst relativ spät – gegen 11 Uhr – bemerkt. Auch deshalb, weil ein Justizbeamter die Zelle bei der morgendlichen Kontrolle nicht, wie vorgeschrieben, betreten, sondern nur durch die Türklappe geschaut haben soll.
Dazu sowie zu Einzelheiten über die „bauliche Schwachstelle“ im Gefängnis will sich das bayerische Justizministerium
am Mittwoch nicht äußern. Aus Sicherheitsgründen bitte er dafür umVerständnis, sagt stellvertretender Pressesprecher Tobias Geiger. Und: Die „Schwachstelle“ werde sofort beseitigt.

Zurück zum Dienstag: Das Polizeipräsidium Oberfranken warnt am Nachmittag die Öffentlichkeit vor den beiden Osteuropäern. Sie sind, wie sich später herausstellt, mit Fahrrädern, die sie in Kronach gestohlen haben, Richtung Coburg unterwegs. In einer Wohnung im Stadtteil Ketschendorf finden sie Unterschlupf. Die Polizei ist ihnen aber auf den Fersen. Beamte überprüfen Adressen im Verwandten- und Bekanntenkreis des Polen und des Litauers. Auch Hunde und ein Hubschrauber sind imEinsatz. Schließlich stößt die Polizei auf die Spur der Entflohenen. Eine Einheit des in Nürnberg stationierten Sondereinsatzkommandos stellt sie in der KetschendorferWohnung. „Wir haben unsere Aufgabe ordentlich erledigt“, wird Beate Weiß, Sprecherin des Polizeipräsidiums Oberfranken, am Mittwoch sagen.
Die beiden Männer warten jetzt in unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten auf ihren Prozess.