Der Alarm springt während der Arbeit an. Der damalige Kommandant der Münchberger Feuerwehr arbeitet in einem örtlichen Unternehmen als Fuhrparkleiter. Als er auf die A 9 einfährt, ahnt er, dass dies ein außergewöhnlicher Tag wird. Schödel übernimmt die Einsatzleitung, erkundet die Lage, teilt Einsatz-Abschnitte ein, organisiert die Einsatzkräfte und überwacht deren Vorgehen. "Wenn etwas schiefgelaufen wäre, hätte ich die Verantwortung tragen müssen", sagt er. Seine Aufgabe ist es auch, Kameraden zu finden, die sich in der Lage fühlen, die Leichen aus dem Bus zu bergen. In den Wochen und Monaten nach dem Unglück sei die Truppe zusammengerückt. "Der Zusammenhalt war noch besser als ohnehin schon", berichtet Schödel. Mittlerweile hätten Alltag, Beruf und das Ehrenamt alle eingeholt. In der Zeit nach dem Unfall sind "Gaffertum" und "fehlende Rettungsgasse" ein großes Thema. Innenminister Joachim Herrmann beklagt noch an der Unfallstelle, dass die Helfer von Schaulustigen und uneinsichtigen Autofahrern behindert worden seien. "In meinen Augen war die Rettungsgasse aber nicht besser oder schlechter als bei anderen Einsätzen", findet Schödel. Auch die Anwesenheit von "Gaffern" habe er nicht als wirklich schlimm empfunden. "Uns hat keiner behindert. Bei einem Einsatz, der zwölf Stunden dauert, gucken die Leute nun mal zwölf Stunden lang." Immer, wenn er an der Unfallstelle vorbeifährt, kommen die Bilder von vor einem Jahr hoch. "Aber sie belasten mich nicht", sagt Martin Schödel.
Martin Schödel kommandierte bei rund 150 Unfällen im Jahr die Feuerwehr Münchberg. Schon bei der Massenkarambolage in der Münchberger Senke 1990 war er dabei.
Der A 9-Chef
Chaosphase nennt die Polizei den ersten Zeitabschnitt nach einem Ereignis wie dem Busunfall. Es ist die Zeit nach dem Notruf, die Zeit, in der sich das Ausmaß der Katastrophe offenbart. Am 3. Juli 2017 obliegt es Horst Thiemt und seinem Stellvertreter, diesen ersten Einsatz zu koordinieren. "Eine klare Struktur ist das Wichtigste. So bringt man Ordnung in einen Einsatz", weiß der Leiter der Verkehrspolizei Hof. Bis 22 Uhr ist er auf der Autobahn tätig und sichert als Leiter der Unfallaufnahme mit seinen Kollegen Spuren am Wrack, am Lkw und auf der Fahrbahn. Thiemt erlebt die Bergung der Leichen aus nächster Nähe mit und hat bis heute größten Respekt vor den Rettungskräfte und Kollegen, die das machen mussten: "Sie hatten eine ungleich höhere Belastung zu tragen."
Für den Leiter der Verkehrspolizei ist es der schwerste Unfall seines bisherigen Berufslebens. "Und er hat mich am meisten bewegt." Zur psychischen Belastung kommt ein extrem hoher Arbeitsaufwand. Die Hofer Verkehrspolizei gründet die Ermittlungsgruppe "Busunfall", in der fünf Beamte bis November der Ursache auf den Grund gehen und dabei - wie Thiemt betont - akribisch arbeiten. "Wir fühlten uns den Opfern verpflichtet und wollten alle Details ans Tageslicht bringen", sagt er. So sind die Beamten, die auf der A 9 im Einsatz waren, auch bei der Befragung der Überlebenden dabei. Warum der Busfahrer das Stauende übersah, bleibt trotzdem ungewiss. Thiemt und seine Kollegen erleben immer wieder, dass sich Fahrer durch elektronische Geräte ablenken lassen. Mehr Kontrollen auf den Autobahnen hält er deshalb für sinnvoll. Außerdem plädiert er dafür, dass Bremsassistenz-Systeme in Bussen nicht mehr abschaltbar sein sollten. "Das sind notwendige Konsequenzen, um die Gefahr zu minimieren. Trotzdem kann man nicht ausschließen, dass ein Unfall in dieser Dimension wieder passiert."
Horst Thiemt leitet seit vier Jahren die Verkehrsinspektion Hof. Damit ist der Münchberger Chef über die A 9, die A 72 und die A 93. Die meisten Unfälle passieren immer noch auf der A 9.
Der Unfallforscher
Im Unglücksbus waren Batterie samt Elektrik, Drucklufttank sowie Zusatztank weit vorne und nahe beisammen verbaut. Eine gängige, völlig legale Bauweise. Die am Tag des Unfalls aber binnen Sekunden eine verheerende Kettenreaktion auslöste. Es kam zu Kurzschlüssen bei Batterie und Elektrik. Ein Kraftstofftank wurde zusammengestaucht und platzte. Der Kraftstoff entzündete sich, befeuert von austretender Druckluft. "Natürlich ist das in dieser Konstellation eine sehr tragische Verkettung gewesen", sagt Siegfried Brockmann. Er leitet den Bereich Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Und er sagt: "Die Defizite, die bei dem Unfall bei Münchberg auftraten, müssen behoben werden." Es könne nicht sein, dass ein Aufprall mit Tempo 30 solche Folgen habe. Wenn ein Tank, wie in diesem Fall, vor der Vorderachse eingebaut wird, muss entweder der Tank selbst crashsicher sein oder es muss eine kraftableitende Crashstruktur des Bus-Vorderbaus konstruiert werden. Dazu brauche man verbindliche EU-Vorgaben. "Ich erkenne aber nicht, dass sich jemand darum kümmert", sagt Brockmann.
Aktuell debattiert die Politik über Systeme, die Busse oder Lastwagen bei Gefahr von selbst abbremsen lassen. Der Unglücksbus musste wegen seines Alters ein solches System noch nicht besitzen. Für neue Modelle will Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die Anforderungen nun verschärfen - die Bremsassistenz-Systeme sollen nicht mehr abschaltbar sein. "Für die deutsche Ebene sage ich: Wir werden das Abschalten von Notbrems-Assistenten untersagen - und das noch vor der Sommerpause", betonte Scheuer. Ab Tempo 30 soll das System nicht mehr abschaltbar sein, der Fahrer kann dann nicht mehr eingreifen. Problem bei der Sache: Nachrüsten lassen sich Notbrems-Assistenten nicht, wie eine Sprecherin des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) sagte. Kathrin Zeilmann
Siegfried Brockmann ist der Leiter der Unfallforschung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft.
Der Seelsorger
Die Nachricht von der Katastrophe erreicht Pfarrer Zeno Scheirich kurz nach der Alarmierung. Eine Stunde später sitzt der Notfallseelsorger aus Sparneck bereits in einem eigens eingerichteten Raum in der Autobahnmeisterei Münchberg und wartet auf Angehörige. Die Einsatzleiter rechnen damit, dass sich Verwandte der Insassen auf den Weg zur Unfallstelle machen und dann betreut werden müssen. Mit dieser Erwartung tritt Pfarrer Scheirich den außergewöhnlichen Dienst an. Auf die Frage, ob er Angst davor hatte, sagt er: "Es ist wichtig, sich ehrlich einzugestehen, wo die eigenen Grenzen liegen. Hätte ich Unterstützung von meinen Seelsorger-Kollegen gebraucht, wären sie bereitgestanden. Dieses Gefühl hat mir sehr geholfen." Bis in die Abendstunden sitzt Scheirich allein in dem Raum. Als der Einsatz beendet wird, führt er noch ein Nachgespräch mit den Feuerwehrleuten aus Münchberg. Gegen 20 Uhr trifft dann ein Mann aus Baden-Württemberg ein, dessen Eltern im ausgebrannten Bus saßen. Er war auf dem Weg zu seiner Schwester. Von dem Gespräch darf der Geistliche nicht berichten. Nur so viel: "Eine Krise wirft die Betroffenen völlig aus der Bahn und wir versuchen, sie wieder auf den Weg zu führen." Menschen in der Krise hätten meist unendlich viele Fragen, vor allem nach dem Warum. "Es fällt da schwer, Antworten zu finden." Das Gespräch beschreibt er als einen Weg, den er mit den Betroffenen gemeinsam geht. Dabei müsse er vor allem die Schwere der Situation aushalten können, eben mit dem Betroffenen zusammen. Ob das Gespräch dem Sohn damals geholfen habe, könne er nicht beurteilen. "Aber ich hatte das Gefühl, dass er gestärkt zu seiner Schwester fahren konnte und wusste, wie er mit ihr reden kann." War es für ihn der bislang schwerste Einsatz? "Die Schwere hängt allein von der Betroffenheit des Einzelnen ab. Wenn eine Mutter ihr Kind verliert, nimmt die Öffentlichkeit keinen Anteil. Trotzdem ist so etwas ein sehr schwerer Einsatz für einen Seelsorger."
Zeno Scheirich ist seit 20 Jahren im Dekanat Münchberg in der Notfall-Seelsorge tätig. Einen Einsatz mit so vielen Hilfskräften hat er sonst nie erlebt.
Der Ersthelfer
Jörg-Steffen Höger und seine Tochter sind auf dem Weg zur Arbeit, als sie vor sich das Chaos sehen. Flammen, Rauch, Menschen mit Verletzungen und Verbrennungen stehen auf der Fahrbahn herum. Viele von ihnen haben offensichtlich einen Schock erlitten. "Es war wie eine Szene aus einem amerikanischen Katastrophenfilm", erinnert sich der 54-Jährige. Seine 17 Jahre alte Tochter Annika hat kurze Zeit zuvor eine Sanitäterausbildung absolviert. Nun wird aus Theorie Praxis. Beide kümmern sich um die Menschen, die der Flammenhölle entkommen sind. "In einer solchen Situation geht es oft auch nur darum, zu trösten und zu betreuen oder die Opfer von der Unfallstelle in Sicherheit zu bringen." Einige Zeit später setzt der Medienrummel ein. Jeder will etwas wissen von den beiden aus Marxgrün im Frankenwald. Höger ist selbst seit 40 Jahren Feuerwehrmann. Was ihn ärgert: "Obwohl da genug Autofahrer im Stau standen, haben sie nicht geholfen, sondern ihre Handys gezückt, um Fotos zu machen und zu filmen."
Der 54-Jährige beantwortet geduldig alle Anfragen der Medien. Bei Stern-TV tritt er mit seiner Tochter sogar im Fernsehen auf. Sein Anliegen: Er will deutlich machen, wie wichtig Ehrenamt und Erste Hilfe sind. "Dafür haben wir viel positive Resonanz bekommen. Aber einige warfen uns vor, uns in den Vordergrund zu drängen. Deshalb hat sich meine Tochter zurückgezogen."
Der Vater dagegen betont bis heute öffentlich die Bedeutung, sich zu engagieren. Das Helfen zu lernen. "Wenn jemand die Feuerwehr ruft, erwartet er, dass sie innerhalb von wenigen Minuten eintrifft." Er und seine Tochter sind bei der Wasserwacht, zudem ist der 54-Jährige Erste-Hilfe-Ausbilder beim BRK. Die Erfahrungen, die er bei dem Unfall gemacht hat, kann er in die Ausbildung einfließen lassen: "Ich kann heute Situationen und Ausbildungsinhalte realistischer erklären." Und - immerhin - nach dem Unfall, so sein Eindruck, hätten mehr Menschen einen Erste-Hilfe-Kurs besucht als vorher.
Jörg-Steffen Höger ist selbst Feuerwehrmann. Am Unfallort kam er gemeinsam mit Tochter Annika durch Zufall vorbei. Als einer der Ersten hält er an und fragt sich: "Kann ich ihr das zumuten?"
Chronologie
0.30 Uhr: Im sächsischen Löbau setzt sich ein Reisebus in Bewegung. In den folgenden Stunden nimmt er 46 Fahrgäste auf, viele von ihnen sind Rentner. Sie haben die Reise "Dolomiten und Südtirol" gebucht. Erstes Ziel ist der Gardasee.
7.13 Uhr: In der Leitstelle in Hof geht beim diensthabenden Markus Hannweber der erste Notruf ein. Zehn Minuten später sind die ersten Rettungskräfte am Unfallort. Der Reisebus aus Sachsen, der auf der Höhe von Stammbach vor einer Baustelle auf einen Lkw-Anhänger geprallt ist, steht in Flammen. Warum der Fahrer zu spät gebremst hat, wird vermutlich für immer ein Rätsel bleiben. Wegen der Hitze können die Helfer nicht näher als 20 Meter heran. Feuerwehrmann Andreas Hentschel sagt später: "Mir war klar, dass da niemand mehr herauskommt."
8.10 Uhr: Eine große Rettungsaktion läuft. Hubschrauber bringen zwei Insassen, die sich noch in Lebensgefahr befinden, in eine Spezialklinik. Dass sich überhaupt jemand aus dem Reisebus befreien konnten, ist das eigentliche Wunder. Mehr als 100 Polizisten und 150 Rettungskräfte sind an diesem Tag im Einsatz auf der A 9.
13.30 Uhr: Vom Bus sind nur noch Stahlteile übrig. Freiwillige beginnen, die Leichen aus dem Wrack zu bergen. Die Flammenhölle hat 18 Menschen - darunter den Busfahrer - das Leben gekostet.