Bastimentos (Panama) - Heiliger Abend: Um es gleich vorweg zu nehmen, auf den Bocas del Toro, beziehungsweise der Isla Bastimentos in Panama gibt es nicht nur keinen Schnee - wie diesmal zu Heiligabend in meiner alten Heimat Marktredwitz ja auch nicht -, still, heilig und sonst noch was kennt hier ebenfalls keiner. Schrill, laut, lauter, noch viel lauter, dröhnend. Und jede Menge Alkohol. Eine Insel im Dauerrausch. So in etwa geht es Weihnachten knapp 10.000 Kilometer weit von Deutschland entfernt zu. Zumindest auf "meiner" Insel. Und Leo und ich mittendrin. Während bei uns daheim alle vermutlich im unvermeidlichen Weihnachts-Stress stecken, um Berge von Geschenken unter einem festlich herausgeputzten Baum zu platzieren, geht auf Bastimentos das Wettrüsten um die größten Musikboxen los. Die werden vornehmlich auf den mit bunt blinkenden Kunst-Girlanden und -Bäumen geschmückten Terrassen oder in den Wohnstuben postiert, damit auch ein jeder den Nachbarn überschallen kann. Jedoch nicht mit Jingle Bells - ich hätte mich wirklich danach gesehnt! - oder Feliz Navidad: Mir fliegen derart harte Beats um die Ohren, dass mir die Schädeldecke abzuheben droht.

Ganz so unglücklich bin ich nicht darüber, dass dieses Weihnachtsfest so rein gar nichts mit dem sonst so gewohnten und doch gefühlsbetonten im Kreise der Familie zu tun hat. Immerhin ist es mein erstes Weihnachten ohne meinen geliebten Chap. Heiligabend und ersten Feiertag überstehe ich so einigermaßen, denn um mich herum herrscht pausenlos Trubel. Nachdem der Clan, mit dem ich nun einige Tage verbracht habe, abgereist ist und Stille im Tiotoms einzieht, überkommen mich die Erinnerungen an Garnelen-Fondue und Champagner, an wunderschöne Stunden in unserem alten Heim in trauter Zweisamkeit. Und die Tränen fließen und fließen und fließen. Wollen gar nicht mehr aufhören, während ich von der Hängematte aus in den wolkenverhangenen Himmel blicke und nach einem Zeichen von Chap suche. Sieht er mich? Weiß er, wie entsetzlich einsam ich mich fühle? Hat er gespürt, dass ich an diesem grauenvollen Ostermontag bei ihm war, als er wenige Stunden nach unserer Hochzeit in meinen Armen gestorben ist? So vieles treibt mich um. So vieles. Und keine Antworten. Weder vor Weihnachten noch danach. Da tut es gut, den kleinen Leo fest an mich zu drücken.

Heiligabend beginnt für uns Zeit-Insulaner eigentlich ganz schön, denn eine fröhliche Clique von Deutschen, Österreichern und Holländern macht sich vormittags bei strahlend blauem Himmel und 30 Grad mit dem Boot auf nach Zapatillo, der Naturschutzinsel, wo ich eigentlich schon war. Aber Bootfahren macht immer Laune, zumal bei tollem Wetter. Das zuviel Bootfahren gepaart mit nasser Kleidung und somit Leichtsinn schnell eine Erkältung hervorrufen kann, bekomme ich am eigenen Leib zu spüren. Während ich diese Zeilen schreibe, schaukle ich mit dickem Schal um den Hals in der Hängematte. Bei 29 Grad. Tom, der hier angestellt ist, hat mir aus dem chinesischen Supermarkt irgendwelche Tabletten besorgt - die gibt es natürlich nur einzeln und ohne Beipackzettel -, die ich mit Kakao und später einem Tee mit Rum runterspüle. Soll helfen. Wir werden sehen.

Also zurück nach Zapatillo. Nach über einer Stunde und dem Aufspüren eines Faultiers in den Mangroven sind wir da. Von einsamer Insel ist diesmal nicht so viel übrig. Beim ersten Mal vor etwa zehn Tagen waren wir fast allein, diesmal fallen Horden lärmender Amerikaner mit überdimensionalen Chipstüten und ebensolch monströsen Colaflaschen ein, gefolgt von eifrig knipsenden Japanern - nicht weniger lärmend. Gottseidank sind wir beim Streifzug durch den Dschungel der geschützten Insel noch allein. Sonst hätte sich die kleine Schildkröte, die einer der beiden Homosexuellen, die uns begleiten, entdeckt, längst auf und davon gemacht. So aber lässt sie sich im Schein der Sonne auf ihrem morastigen Grund von allen Seiten bestaunen, während sie ihren Hals den warmen Strahlen entgegenreckt. Weil Schwimmen heute nicht unbedingt Spaß macht - hohe Wellen und viele schreiende Menschen -, fällt der Fokus verstärkt auf die wunderschöne Natur. Aus den vielen auf dem Boden vor sich hinfaulenden oder trocknenden Kokosnüssen wächst neues Leben, sprießen frischgrüne Triebe. Dazwischen bahnen sich Kolonien arbeitsamer Riesenameisen mit schwerem Gepäck - sie schleppen giftgrüne Blätterteile allesamt in die gleiche Richtung - ihren Weg. Die Bisse dieser Tierchen sind äußerst unangenehm. Und wo viele Ameisen und Termiten unterwegs sind, gibt es natürlich auch Tiere, bei denen diese Spezies auf dem Speiseplan steht: Ameisenbären.
Allerdings habe ich in Panama noch keinen entdeckt. Doch da werden Erinnerungen an Costa Rica wach, als ich mit Chap im Dschungel einen dieser Riesen maximal fünf Meter über unseren Köpfen entdeckt habe. Ein wahnsinniges Erlebnis. In Panama gibt es von den weltweit nur vier existierenden Arten gleich alle auf einen Schlag: den Großen Ameisenbär, den Zwerg-Ameisenbär, den Nördlichen sowie den Südlichen Tamandua. Mit ihrer langen, schmalen Zunge, bedeckt mit klebrigem Speichel, verleiben sie sich das Objekt ihrer Begierde - eben die unangenehmen Insekten - ein.



Nach der Schildkröte und dem Faultier habe ich heute ein drittes tierisches Glück: eine Schlange. Nicht dicker als mein kleiner Finger, dafür etwa einen Meter lang, schlängelt sich das Tier - giftig oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis -, an einer Palme entlang. Und weil wohl Weihnachten ist, sind aller guten Dinge diesmal nicht drei, sondern gar vier. Auf der Fahrt zu einem Schnorchel-Hotspot, womit wir dann eigentlich auf fünf kämen, begleiten Delfine unser Boot. Und wenn ich es schon so oft gesehen habe, ist es doch immer ein wundervolles Erlebnis, Flipper live zu erleben.

Ausgelaugt kehren wir zurück und freuen uns auf das Weihnachts-Dinner. Denn heute gibt es zur Feier des Tages ein Buffet mit gefülltem Turkey. Dazu kommen tolle Soßen auf den Tisch, ein riesiger Schinken aus der Röhre, leckerer Fisch mit Zwiebeln, Kartoffelsalat und andere Salate. Und natürlich Reis. Der fehlt hier so gut wie nie bei den Mahlzeiten.

Naja, ein paar Plätzchen wären schon... Aber lassen wir das. Man kann schließlich nicht alles haben und sich gebärden wie ein verzogenes Kind. Apropos: Wir erleben eine Bescherung mit ganz vielen glücklichen Kinderaugen gleich neben dem Tiotoms oben auf dem Dorfplatz. Hier sind anscheinend sämtliche Kinder der Insel zusammengekommen. Es dürften locker um die hundert sein, die sich hier versammeln, um die kleinen Gaben in Empfang zu nehmen, die das Christkind oder der Nikolaus oder wer auch immer vorbeigebracht hat. Laut Chris, meinem Vermieter, ist dies seit dem Regierungswechsel auch das allererste Mal. Ob Säugling oder Schulkind, jeder bekommt eine blinkende Nikolausmütze verpasst. Und diverse Süßigkeiten, nachdem der Weihnachtsbaum auf dem Platz neben der Schiffsanlegestelle hell erleuchtet worden ist. Im Hintergrund thront ein aufgeblasener, etwa drei Meter hoher Santa Clause. Und aus den Lautsprechern dröhnt wenig weihnachtliche Musik. Eine Bescherung für die Kinder daheim gibt es hier nicht, nicht einmal bei den Amerikanern, die hier heimisch geworden sind. "Mein Sohn hat sein Fahrrad schon vor über einer Woche gekriegt", verrät uns Peter. Denn er könnte es daheim weder verstecken oder bei Nachbarn einstweilen unterbringen. "Jeder würde das hier verraten", ist er ganz sicher.

Strahlende Kinderaugen erleben wir später auch im kleineren Kreis auf der Terrasse unseres Guesthouses. Oskar ist das einzige Kind unter etwa 20 Erwachsenen aus vielen Teilen der Welt. Der Fünfjährige aus München, der zusammen mit seiner Mutter schon seit einem halben Jahr auf Reisen ist - der Papa ist nun ein zweites Mal zu ihnen gestoßen -, hatte schon die größten Bedenken, dass das Christkind ihn hier nicht findet. Denn in den letzten Monaten sei er schließlich immer wo anders gewesen. Mal in Äthiopien, mal in Südafrika, mal in Kolumbien. Aber das Christkind wäre nicht das Christkind, fände es den Weg nicht auch zu Oskar. Dass der Plüsch-Papagei vom Papa aus München in die Tropen gebracht worden ist, wird er schließlich nie erfahren. Die einzige Befürchtung des kleinen Globetrotters ist nun, dass seine Geschenke - ein paar Legos hat es ja auch noch gegeben - jetzt noch in die ohnehin schon vollgepackten Rucksäcke reinpassen. Sie haben. Waren ja vorher schon drin. Aber wie soll Oskar das auch wissen.

Alle haben Spaß an Oskars Freude. Und ich hab ja auch noch ein Geschenk auszupacken, das mir meine Kollegin Brigitte mitgegeben hat. Und, wie könnte es anders sein, es ist das schöne Janosch-Buch "Oh, wie schön ist Panama". Verschämt lasse ich es im Bungalow zurück, sonst hätte ich es vielleicht Oskar in die Hand gedrückt. Aber ich halte es in Ehren, und es wird mich auf meiner Reise begleiten - auch über Panama hinaus.
Feucht-fröhlich geht es in der Runde weiter, während drüben am Bootsanleger die ersten Raketen in den sternenklaren Nachthimmel steigen. "Das geht jetzt so weiter bis ins neue Jahr", erklärt Chris im Brustton der Überzeugung. Und meint nicht nur die Ballerei und die laute Musik, sondern auch das kollektive Besäufnis, dem wir uns in dieser Nacht anschließen.

Am nächsten Morgen sind alle mehr als froh, dass sich die Sonne kaum blicken lässt. Mit schwerem Kopf und schweren Gliedern hängen alle in den vielen Hängematten und sind happy, weder schnorcheln, schwimmen, auf einen Ausflug über irgendwelche matschigen Dschungelpfade gehen oder gar etwas trinken zu müssen. Bis sich der Tag dem Abend neigt. Denn dann sind die Stammgäste des Tiotoms zum Feiern in Damis Haus eingeladen. Leo muss diesmal daheim bleiben, zumal ich kein gutes Vorbild abgeben würde. Die Bewohner der Insel sind schon seit den Morgenstunden von Haus zu Haus unterwegs, um sich hier und da und dann auch mal dort dem zügellosen Vergnügen des Alkohol-Vernichtens hinzugeben. Gerade mal drei Minuten zu Fuß, schon sind wir in den privaten Gemächern von Chris' Lebensgefährtin. Eigentlich scheint man sich hier mehr in einer Diskothek wieder zu finden angesichts der dröhnenden Bässe aus den Boxen, die hinaus auf die Veranda bis tief in den Magen dringen. Der wird gleich aufs Neue erschüttert, denn auf dem Tisch stehen zwei halbe Gallonen - also Flaschen mit jeweils knapp zwei Litern Inhalt - Rum, daneben Cola und Eis in Schüsseln. Cuba Libre ist das Getränk der Insel. Viele fangen morgens schon damit an, in den meisten Fällen aber Rum pur.

Nach dem zweiten Glas kehrt endlich Farbe zurück in mein Gesicht. Zumindest fühlt es sich so an.
Gegenüber, wo die tatsächliche Diskothek beheimatet ist, wie an den noch mehr dröhnenden Klängen unüberhörbar ist, gibt es einen Menschenauflauf, vielmehr einen wütenden Mob, der sich brüllend zusammenrottet. Irgendwelche Frauen mit mächtigen Oberarmen fallen kreischend übereinander her, ziehen Männer andere an T-Shirts und Hosenbund, stürzen kreischende Knäuel Volltrunkener auf die Müll übersäte Wiese oder in den Graben, den der prasselnde Regen gerade vorhin aufgeweicht hat. Fröhliche Weihnachten! Stille Nacht, heilige Nacht. Still ist hier nichts, heilig schon gar nicht. Unsere Köpfe hängen ebenso neugierig über Damis Veranda-Geländer wie die Köpfe von Passanten oder einiger Disco-Besucher, die sich aus der Streit-Arena zurückgezogen haben. Endlich eilt der Dorfpolizist herbei. Allein. Mitten rein in den Mob. Und schnell wieder raus. Wie sich herausstellt, fordert er Verstärkung von der Hauptinsel an.

Mittlerweile drängen immer mehr junge Leute in Damaris' Haus. Jeder erzählt irgendwas. Die Rede ist von einem oder einer Toten. Dieses Gerücht macht die Runde. Näheres erfahren wir erst am Tag darauf. Eine Frau - Schlägereien unter den Vertretern des weiblichen Geschlechts sind laut Chris auf der Insel an der Tagesordnung - hat einem Mann letzte Nacht ein Messer in den Bauch gerammt. Und irgendwelche Kopfverletzungen soll es obendrein gegeben haben. Glücklicher Ausgang: Es gibt keinen Weihnachts-Toten, der Typ landet im Hospital auf Bocas. Er hat die Messerattacke überlebt.

Das Kapitel "Eine Insel im Vollrausch" indes ist noch nicht beendet. Mit hämmernden Bässen geht es weiter bis zum Morgengrauen. Jeden Tag. Bis Neujahr. Na dann Prost!