Bocas del Toro - Regen, Regen, Regen. Ich schaukle träge in meiner grün gemusterten Hängematte und entdecke soeben den Begriff "Abhängen" neu. Allerdings bei durchaus akzeptablen Temperaturen von um die 27 Grad. Seit eineinhalb Wochen zähle ich zu den Travellern, die sich voller Neugier aufmachen, die große, weite Welt zu erobern. Denn verschieben bis aufs Rentenalter sollte man solche Dinge wirklich nicht, wenn man Lust auf Reisen hat. Das ist mir nach dem Tod meines geliebten Mannes Chap deutlich vor Augen geführt worden. Um sich auf den Weg zu machen und die alten, ausgetretenen Pfade zu verlassen, braucht man nicht unbedingt den dicken Geldbeutel. Denn all die vielen jungen Leute, die ich bereits in dieser kurzen Zeit kennengelernt habe, besitzen wahrlich kein üppiges Bankkonto. Sie sind Studenten oder stehen vor dem Studium, sind gerade mit der Ausbildung fertig und sind einfach noch nicht bereit für die Tretmühle.

Seit sieben Tagen bin ich auf den Bocas del Toro, genauer gesagt auf der 800 Seelen zählenden Isla Bastimentos in Tiotoms Guesthouse. Keine Autos, keine Mopeds, bestenfalls ein paar klapprige Fahrräder. Und nur schmale Wege, die bei Nässe zu gefährlichen Rutschbahnen mutieren. In diese Inselwelt zu gelangen, etwa 50 Flugminuten von Panama-City entfernt, wäre eigentlich gar nicht so problematisch. Wäre da nicht dieser permanente tropische Regen. Leo und ich - Leo ist mein Mini-Plüsch-Zebra, das mich auf meiner monatelangen Auszeit als Zuhörer und Tröster begleitet - müssen warten. Eine Stunde, zwei Stunden. Puuuuuh! Und kein Mensch - es sind um die 50 Passagiere, die auf den Flug warten - weiß, warum nichts weitergeht. Endlich packe ich mir einen von diesen Air-Panama-Menschen, die unentwegt durch die kleine Wartehalle wuseln, mit dem Walkie-Talkie in der Hand. Es ist der Regen. Aber nicht der in der Hauptstadt, sondern der auf der Isla Colon, dem Zentrum dieser kleinen tropischen Inselwelt. Die Landebahn ist so stark überflutet, dass ein Aufsetzen der Maschine zu riskant wäre. Und das alles, nachdem schon meine neu erworbene Visa-Card auch nach drei Versuchen im Hotel nicht funktioniert hat. Glücklicherweise habe ich gleich drei verschiedene Geldkarten dabei. Mit der Mastercard klappt es auf Anhieb. Und das ohne Geheimnummer. Oh wundersame Welt der Technik.

Dass ich von meiner Auszeit und der Reise berichten kann, liegt daran, dass ich mich vor meiner Abreise technisch hochgerüstet habe. Das allein reicht natürlich nicht. Denn bedienen sollte man derartige Hightech-Geräte dann ja auch. So musste ich mich nach Chaps Tod - er war in unserer Beziehung immer derjenige, der sich um TV, Computer und Co. gekümmert hat - als absolute Technik-Niete in eine Materie reinknien, auf die ich absolut keine Lust hatte. Wer jenseits der 50 ist, tut sich eben nicht mehr so leicht, Dinge wie Skype, Dropbox und weiß der Teufel alles zu verstehen. Dank meiner Nichten, Neffen und Computer-Freak-Freunde bin ich zumindest soweit, dass der Kontakt nach Deutschland klappt, wenn ich Wlan habe. Damit es nichts kostet. So habe ich neben meinem Smartphone auch ein Tablet nebst externer Tastatur dabei und eine neue Kamera, die als hochleitungstechnisches Leichtgewicht ein absolutes Muss war. Um sie allerdings richtig zu verstehen, habe ich noch ein Buch dabei, das mir alle Funktionen näher erläutern wird. Meine Familie hat es sogar geschafft, meine Mutter davon zu überzeugen, sich ein Smartphone anzuschaffen, um mit mir hin und wieder in Kontakt zu bleiben. Es gibt Tage, da überschwemmen mich ihre WhatsApps nun regelrecht.

Mein Rucksack scheint mit Steinen befüllt zu sein, als ich mich auf den Weg zu den Bocas del Toro mache. An Leo, dem Leichtgewicht, mag es nicht gelegen sein. Eher daran, dass ich jetzt all meine Flug-Klamotten aus Deutschland nebst Wanderstiefeln noch hineingepresst habe. Das Ende vom Lied: Ich habe vier Kilo Übergepäck. Nur 14 sind erlaubt auf Inlands-Flügen. Das kostet mich schlappe 8,44 Dollar, was durchaus noch human ist. Mein Handgepäck, das um die acht Kilo wiegt, wird nicht beanstandet. Als wir landen, ist der Regen grad vorbei, ich nehme mir ein Taxi zum Anlegesteg nach Bastimentos. Mit einigen anderen Fahrgästen holpere ich über die unsanften Wellen. Ich klettere direkt am Guesthouse aus dem Boot, nur wenige Meter von meinem Bungalow entfernt. Die einzige Unterkunft mit eigener Terrasse, Hängematte und freiem Blick aufs Wasser. Allerdings nur Kaltwasser-Dusche. Leo und ich sind begeistert. Eben noch verwöhnt vom Fischmarkt in Panama-City, muss ich mich auf der Insel an andere Preise gewöhnen. Köstliche Ceviche - roher Fisch oder Meeresfrüchte, mariniert in Limettensaft, Koriander, Chili und Zwiebeln - ab 2,50 Dollar gibt es hier weit und breit nicht. Dafür Chicken-BBQ für acht Dollar.

Der Safe im Bungalow ist übrigens eine im Holzboden meines auf Stelzen im Wasser stehenden Bungalows angenagelte Holzkiste. Wie gut, dass ich ein fettes Umhängeschloss dabei habe. Ebenso nützlich wie Wäscheklammern, Schrauben oder Haken, nicht zu vergessen kleines Werkzeug und ein Korkenzieher, sollte ich statt einem Tetrapack im chinesischen Supermarkt auch einmal eine Flasche mit Rotwein besorgen. Weißwein scheidet ebenso wie eiskaltes Bier in Ermangelung eines Kühlschranks aus. Da geht höchstens mal ein Bier to go. Alle Supermärkte sind hier übrigens in Hand der Chinesen, die bei den Geschäften den Ton angeben.

Nach Banane hat in meinem ersten Abenteuer-Land bisher nur diejenige selbst gerochen, die morgens bei mir auf dem Teller nebst leckeren frischen Papayas und Ananas gelandet ist. Das Janosch-Zitat von Chap hat sich somit noch nicht bestätigt. Aber ich bin ja erst eine gute Woche in Panama, seit ich Deutschland für längere Zeit den Rücken gekehrt habe. Irgendwie fühlt es sich an, als wäre Chap bei mir. Aber ich kann ihn nicht mehr greifen, umarmen und küssen. Das tut verdammt weh. Denn gerade in solche Abenteuer haben wir uns mit Liebe hineingestürzt, zuweilen wie kleine Kinder, die mit großen Augen die Welt neu entdecken. Jetzt muss ich sie für uns allein erforschen. So wie gestern, als es endlich einmal einen Tag ohne Regen gegeben hat, beim Schnorcheln. Die ersten Male vor vielen Jahren habe ich wohl literweise Salzwasser geschluckt, ehe ich begriffen habe, wie das mit der Atmung funktioniert. All das habe ich Chaps unendlicher Geduld zu verdanken, die bei mir der größte Schwachpunkt ist. Er hat es verstanden, mich für das schönste Kino der Welt mit seiner atemberaubenden Vielfalt zu begeistern. Diesen Farbenrausch unter Wasser erlebe ich nun für uns beide.

Andere Menschen beneiden mich gerade, wie ich auf der Veranda meines spartanischen Bungalows sitze auf der Isla Bastimentos auf den Bocas del Toro, direkt über dem Meer, die Hängematte gemütlich im tropischen Wind vor sich hinschaukelnd. Ja, das war es, was wir uns immer erträumt haben. Mal nicht fremdbestimmt und auch nicht nur für eine kurze Zeit abhängen und neue Welten erobern. Doch ich sitze oder hänge noch immer ziemlich unentspannt und verkrampft da. Immer wieder dreht sich alles bei mir um den Ostermontag, an dem Chap und ich geheiratet haben und an dem mein Mann gestorben ist.

Rund um mich herum scheint das Leben zehn Gänge herunter geschaltet zu sein. Bloß nicht schnell bewegen - ist ja schwül ohne Ende - und am besten nicht zu viel tun, am allerbesten: in der Hängematte abhängen. Wozu trägt sie schließlich ihren Namen! Ich hingegen toure noch immer unter Volldampf. Obwohl es keinerlei Notwendigkeit dafür gibt. Manana, Manana, lautet hier allerorten das Motto. Wenn es jedoch darum geht, die Menschen zu verstehen, überschlagen sich deren Stimmen wie Maschinengewehre auf dem Schlachtfeld. Mein Spanisch-Crashkurs auf Mallorca, den ich zwischen Wohnungsauflösung und elenden Tiefs auch noch hineingepackt habe, scheint gerade wenig zu fruchten. Während in Panama-City noch einiges verständlich war, wenn sich die Menschen mal bemühen, etwas langsamer zu sprechen, stehe ich hier im Supermarkt - nein, keiner, wie man ihn bei uns kennt - wie belämmert da. Ein Kauderwelsch aus Pidgin-Englisch und Spanisch klingt in rasendem Tempo an mein Ohr. Lieber Himmel! Gut, dass man hier die wichtigen Dinge wie Cerveza (Bier), Agua (Wasser) und Vino (Wein) versteht. Auf alles andere greift man einfach zu. Oder lässt es, wenn Hühnerköpfe aus der Kühltheke starren oder die Innereien von irgendwas.

Als es gerade mal nicht regnet, schnappe ich mir mit einigen Leuten - hierher kommen unendlich viele Traveller aus der ganzen Welt - einen Bootsführer, der uns nach Salt Creek schippert. In den Mangroven über unseren Köpfen hängen müde und träge fünf Faultiere, die sich im Zeitlupen-Takt von Blatt zu Blatt hangeln. Faszinierend, wie sie sich mit ihren langen Krallen das Schmackhafteste aus den Bäumen grabschen, um es in aller Gemütlichkeit zu verzehren. Dann gelangen wir durch die herrliche Inselwelt - hinter Chaps RayBan-Sonnenbrille, die ich selbstverständlich während der ganzen Reise trage, schießen mir immer wieder die Tränen in die Augen - in das Indio-Reich nach Salt Creek. Ein so malerisch ruhiger Ort, wie ich ihn selten gesehen habe. Trotz vielen Mülls, der sich irgendwo unter den Stelzenhäusern ansammelt, wirkt die Szenerie ganz idyllisch. Doch leben möchte hier sicherlich kaum einer von uns. Die Indios profitieren in erster Linie von den kleinen Kunstwerken aus Muscheln und Perlen, die sie in Form von Armbändern oder Ketten an Touristen verkaufen. Oder Schnitzereien aus Holz. Für zwei Dollar begleitet uns eine Indio-Frau mit ihrer Tochter durchs 700 Einwohner zählende Dorf. 200 Kinder besuchen die Schule in Salt Creek. Hier gibt es keinerlei Nachwuchssorgen wie in unsereren Breiten. Die zwei Dollar werden dafür verwendet, dass der Müll von der Insel geholt wird. Das eine oder andere scheint man hier wohl vergessen zu haben. Dass die Kinder einfach Spaß daran haben, ein Holzbrettchen an einer Schnur durch einen kleinen Bachlauf zu ziehen, mag den verwöhnten Jungen und Mädchen bei uns zu Hause, die am liebsten zur Einschulung schon ihr erstes Handy besitzen würden, kaum zu vermitteln sein. Oder vielmehr deren Eltern. Ein wunderschönes Erlebnis ist es, als uns auf der Rückfahrt zwei Delfine begleiten.

Einen weiteren regenfreien Tag nutzen Leo und ich, um den Strand jenseits des Hügels zu erkunden. Irgendwo links nach dem selbst ernannten Fußballplatz zweigt ein schmaler Pfad ab. Hier also geht's Richtung Strand. Zirka 20 Minuten sollen es sein. Nur wenige Meter später erweist sich mein sportlicher Morgenspaziergang als ein ausgewachsenes Abenteuer. Ich mühe mich von Wurzel zu Stein oder was immer sich so in der Natur anbietet. Der Matsch nach den heftigen Regenfällen der vergangenen Tage wird immer schlüpfriger und tiefer. Und ich mit Flipflops unterwegs. Hoffentlich gibt es keine Blutegel. Es wäre nicht das erste Mal, dass bei solch einer Dschungeltour plötzlich winzige sich windende Tierchen als ausgewachsene, mit Blut vollgesogene Monster zwischen meinen Zehen wie festzementiert andocken.

So viel vorweg: Heute habe ich Glück. Mit Müh' und Not hangel ich mich mittlerweile von Baumstamm zu Ast, jener allerdings ist doch ein bisschen zu zart. Mit den Resten in der Hand mache ich einen mit Sicherheit äußerst uneleganten Abgang, stecke so tief im Schlamm, dass ich kaum meine Schlappen befreien kann. Irgendwie gelingt es doch, Shirt und Shorts sind noch unversehrt. Barfuß taste ich mich auf dem kaum noch auszumachenden Pfad weiter - es geht jetzt richtig steil nach unten -, um letztlich doch die Balance zu verlieren. Ich lande auf dem Allerwertesten, meine Hände stecken im Schlamm, aber mein Rucksack mit Leo, Fotoapparat und Handy ist in Sicherheit. Jetzt ist ohnehin schon alles egal. Das Rauschen des Meeres dringt immer stärker an mein Ohr. Gleich hab ich es geschafft. Nach etwa 50 Minuten bin ich da. Ein Strandwächter mit Machete in der Hand grinst mich ungläubig an und denkt sich wohl nur, wie bescheuert Gringos wohl sein mögen.

Etwas ungelenk schwenke ich meine versifften Klamotten im Meer. Angesichts des Wellengangs ein fast aussichtsloses Unterfangen. Denn zum Schlamm mischen sich jetzt auch noch Tausende feiner Sandkörnchen. Während die Lumpen an einem angespülten, modernden Ast ein wenig vor sich hin flattern, nehmen Leo und ich ein kurzes Sonnenbad am sonst ausgedehnten, weißen und menschenleeren Strand. Bis auf besagten Strandwächter. Als ich am Horizont von Wizzard Beach zwei Figuren erblicke, hoffe ich, die hätten eine bessere Möglichkeit, als den Weg zurück über den üblen Pfad. Es sind zwei 32 und 30 Jahre alte Israelis, die wiederum darauf zählen, ich könnte ihnen einen besseren Weg zeigen. Zumindest sind wir jetzt zu dritt.

Schweißtriefend arbeiten wir uns nach oben. Das Gemisch aus Sonnencreme und Mückenschutz hat sich längst im Schwitzwasser aufgelöst. Es scheint den miesen Mosquitos geradezu eine diebische Freude zu bereiten, über mich herzufallen. Wir gelangen auf dem Pfad zu einem Öko-Laden mitten im Dschungel. Schön, für mich wenigstens Neuland. Mittlerweile bin ich nur im Bikini unterwegs, mit um die Hüften geschlungenen Handtuch und meinen Schnorchel-Stiefeln, die als Ersatz im Rucksack steckten. Gottseidank gibt es davon kein Bild! Der Rest meiner Klamotten baumelt pitschnass am Rucksack. Ausgerüstet mit frischem Wasser und drei hausgemachten Essenzen - eines zur Verhinderung von Mossi-Stichen, eines, wenn es schon zu spät ist, und eines gegen Augenfalten (die Hoffnung stirbt zuletzt!) - machen wir uns weiter an den Abstieg. Matschversifft bei 30 Grad und etwa 70 Prozent Luftfeuchtigkeit. Der Stärkere meiner Begleiter geht mit einem riesigen Rums zu Boden. Die matschige Pampe klebt an ihm von oben bis unten. Zum Glück hat er sich nicht verletzt.

Endlich im Dorf angekommen, verabschieden sich die beiden in ihr Hostel. Ich hab gerade eine Minute zu meiner Bleibe. Nur noch an der Polizei vorbei. Zwei stehen in der Tür, einer kommt geradewegs auf mich zu. Ich ahne, was folgt. Mit Bikini-Oberteil oder nacktem Oberkörper durchs Dorf zu laufen, ist ein absolutes No-Go! Freundlich fragt mich der Polizist, ob ich am Strand über dem Hügel war. Ich deute auf meine mit Matsch verschmierten Beine und Stiefel und die verdreckten Klamotten. Grinsend meint er nur, er wollte sich nur vergewissern. Abends bringen mir die beiden Israelis die sechs Dollar zurück, die ich ihnen in der Öko-Ranch geliehen hatte, damit sie sich die leckeren Brownies leisten konnten. "Wir haben kein Geld und sonstige Wertgegenstände mit nach Wizzard Beach mitgenommen, weil es hieß, man würde hier öfter überfallen", meint der eine. Ich hatte "lediglich" Leo, 30 Dollar, meine neue Über-500-Euro-Kamera und mein Handy dabei. Mich allerdings hat niemand gewarnt. Es war auch besser so, denn so konnten Leo und ich unser Matsch-Abenteuer ohne Panik "genießen".

Ich lasse wieder von mir hören, wenn zur Abwechslung mal die Sonne scheint und der Regen eine Pause einlegt.