Herr Müntefering, am 23. Mai wird die SPD 150 Jahre alt. Ein knappes Drittel dieser Zeit sind Sie selbst in der SPD engagiert, haben sie über weite Strecken mitgeprägt. Was war denn in Ihrem Drittel die spannendste Zeit für die SPD?
Ach, spannend war da alles. Am spannendsten war für mich, 1969 als junger Mann in den Rat meiner Heimatstadt Sundern zu kommen und damit kommunalpolitisch mitmischen zu können. Darauf war ich zunächst fixiert. Im Bundestag war dann die Zeit mit Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner spannend; damals habe ich noch in den hinteren Reihen gesessen. Und als Drittes natürlich die Zeit mit Gerhard Schröder in der Verantwortung an der Spitze der Fraktion und dann in der Bundesregierung. Es gibt also drei größere Kapitel, die ich persönlich so empfinde.

Und wenn man die ganzen 150 Jahre betrachtet. Wo sehen Sie hier eine besonders bemerkenswerte Zeitspanne?
Der Beginn mit Ferdinand Lassalle und, einige Jahre danach, dann August Bebel, der sich verbindet mit der Forderung nach Demokratie. Da entstand die Botschaft „Alle Menschen sind gleich viel wert“. Dabei ging es nicht nur um das Kreuzchen am Wahltag, sondern darum, dass alle wählen dürfen und alle Stimmen gleiches Gewicht haben. Das war damals eine ungeheuerliche, eine revolutionäre Sache. Deshalb waren auch Staat, Kirche, Reichswehr sehr skeptisch – und sehr kritisch eingestellt gegen die Sozialdemokraten. Diese demokratische Idee muss uns auch heute immer noch tragen. Dieser Leitsatz gilt: Alle Menschen sind gleich viel wert, keiner Herr, keiner Knecht. Das ist wirklich eine ganz große Botschaft, die zentrale sozialdemokratische.

Und nach diesen Anfängen?
Da ist vor allem der Stolz auf die Zeit, als die Sozis gegen die Nazis gekämpft haben. Wir haben ja in den vergangenen Tagen oft an Otto Wels erinnert, der sich, als es im März ’33 im Reichstag um Hitlers Ermächtigungsgesetz ging, mit der SPD-Fraktion mutig gegen die Nazis gestellt hat. Und dann natürlich das „Godesberger Programm“.

Für Sie der wichtigste Meilenstein in der Nachkriegsgeschichte der Partei?
Unbedingt, denn im November 1959 (in Godesberg) wurde die SPD erklärterweise eine Volkspartei, die alle einlädt, die sich zur sozialdemokratischen Idee bekennen, ob sie nun Arbeitnehmer oder Unternehmer sind, jung oder alt, Männer, Frauen, Deutsche, Nichtdeutsche, gläubig oder nicht, wenn sie sich auf der Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität organisieren und gemeinsam tätig sein wollen. Das war 1959 und in die Sechzigerjahre hinein eine große Öffnung. Eine ganz wichtige Phase, die uns half, Regierungsmehrheit zu gewinnen.

Sigmar Gabriel, Ihr Nachfolger als Parteivorsitzender, hat unlängst im Frankenpost-Interview gesagt, die SPD sei die konservative Partei im Bundestag, allerdings eben wertkonservativ, nicht strukturkonservativ. Teilen Sie diese Einschätzung?
Naja, das ist ein alter Streit um Worte. Ich glaube, dass wir Werte haben, die nicht disponibel sind. Das ist die Demokratie. Das ist die Freiheit des Einzelnen. Das ist die Gerechtigkeit im Sozialstaat, aber auch die Solidarität unter den Menschen im Miteinander der sozialen Gesellschaft. Insofern wechseln wir nicht beliebig nach der Zeit unsere Werte, da gibt es Kontinuität. Aber: Sozialdemokraten waren immer auch welche, die auf Fortschritt und Veränderung gesetzt haben. Im Grunde sind wir gestartet mit dem Begehr, es soll besser werden auf der Welt, besonders für die Schwächeren. Dazu wollen wir beitragen. Wir sind nicht allmächtig, aber wir sind auch nicht ohnmächtig. Menschen können was bewegen. Das ist der politische Impuls, der uns von den Strukturkonservativen unterscheidet. Die sagen, das ist eben so im Leben und man kann nicht wirklich etwas machen. Wir Sozis sagen: Uns ist egal, was die Philosophen meinen. Wir wollen es trotzdem besser. Und dafür strengen wir uns an.

Als sich die Vorläufer der Sozialdemokratie Ende des 19. Jahrhunderts formierten, ist ja auch Georg Herweghs Lied an den „Mann der Arbeit“ entstanden, mit dem berühmten Satz „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Das zielt ja genau in diese Richtung. Aber ist diese machtvolle Position links von der Mitte nicht inzwischen Geschichte?
Nein. Sie stellt sich aber anders dar als damals. Der Kapitalismus damals äußerte sich besonders in der Industrialisierung, im Nicht-Organisiertsein der Arbeitnehmer, in deren Unterdrücktsein, in der Hetze gegen sie. Das haben wir verändern können. Das ist auch ein Erfolg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften über die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte. Heute gibt es den Finanzkapitalismus, der andere, jetzt internationale Herausforderungen bringt. Vor allen Dingen verlangt er uns ab, die Einheit in Europa zusammenzuhalten. Und: International dafür zu sorgen, dass nicht das Kapital die Menschen und die Welt bestimmt. Also: Es gibt andere Aufgaben, aber es geht immer noch um den Wert des einzelnen Menschen und darum, dass wir ihm Chancen geben müssen und wollen, gerechte, gleiche Chancen für die individuelle Gestaltung seines Lebens.

Dieses Entstehen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 als Vorläufer der SPD aus der Arbeiterbewegung heraus hat durch die Öffnung hin zur Volkspartei eine andere Dimension bekommen. Heute klagen aber viele, die sozialdemokratische Politik würde ihre Wurzeln vernachlässigen.
Nein, das ist nicht so. Ich denke, erst als Volkspartei ist die volle Qualität der Sozialdemokratie möglich geworden. Wir sind keine Partikularinteressen-Partei. Wir wollen soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau – nicht soziale Gerechtigkeit irgendwie. Auch in einem armen Land kann es sozial gerecht zugehen. Aber wir wollen, dass es den Menschen –allen- gut geht dabei. Dazu brauchen wir auch ökonomische Prosperität und ökologische Sicherheit. Das Soziale und das Ökologische und Ökonomische gehören zusammen. Nur, wenn man die Gesellschaft insgesamt betrachtet und die Gesamtverantwortung übernimmt, kann man letztlich auf Dauer auch die Interessen der Schwächeren berücksichtigen und sie stärken.

Somit hat sich die SPD im Laufe Ihrer Geschichte immer wieder an neue Gegebenheiten angepasst?
Ja. Selbstverständlich. Und sie hat gelernt, dass man nicht nur gegen etwas kämpfen muss. Sondern, dass man, wenn man die Macht hat, auch gestalten muss. Das ist nicht immer leicht, dessen bin ich mir bewusst. Aber: Es ist nötig. Dazu noch ein 150 Jahre alter Satz von Lassalle: „Diese Apathie der Massen ist zum Verzweifeln!“

Empfinden Sie es auch manchmal als frustrierend, dass Sie überzeugt sind, den richtigen Weg zu kennen, um – wie es im 2007 beschlossenen Hamburger Programm steht – „mit Hilfe der solidarischen Mehrheit“ zu regieren. Und dann macht der Wähler sein Kreuzchen doch woanders. Oder, schlimmer noch: Er macht es gar nicht.
Die, die gar nicht wählen, die sind schon eine Last. Das gebe ich zu. Ich bin da immer enttäuscht, weil ich dann an die denke, die vor uns gekämpft haben um das Wahlrecht, die erstritten haben, dass 1919 zum ersten Mal so gewählt werden durfte zur Nationalversammlung, - frei und gleich und geheim und direkt und von Männern wie von Frauen. Das ist ja alles noch nicht hundert Jahre her. Dass so viele tatenlos und uninteressiert daneben stehen, das belastet unsere Demokratie. Aber man muss denen auch sagen – und da bin ich nicht allzu zimperlich: Man kann nicht nicht handeln. Wer nicht wählt, hat damit keine Rechtfertigung für das, was passiert. Die Verantwortung, mitzuentscheiden, ist jedem gegeben. Es angeblich besser wissen, aber nur draußen auf der Tribüne hocken und kommentieren, das reicht nicht. Die, die sich anstrengen – auch, wenn sie mal Fehler machen, das tun wir alle -, die sind tausendmal gerechtfertigter als die, die nur draußen herumsitzen und sich das Maul zerreißen.

Dass Ihre starke Basis der Vergangenheit deutlich bröckelt, auch hin zu den Nichtwählern, ist aber etwas, was Sie in den nächsten Jahren kitten müssen, oder?
Das muss man versuchen. Es ist ärgerlich, aber noch nicht dramatisch. Wenn man uns mit anderen Demokratien vergleicht, dann liegen wir nicht so ungewöhnlich schlecht. Wir leben dabei natürlich ein bisschen auch in der Erfahrung der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre, als Demokratie nach 1949 in Deutschland neu entstand. Als das etwas Neues war, hat man es eher als Wahlpflicht und als Verantwortung verstanden. Das hat sich aufgelöst, das Pendel schlägt zurück, der laxe Umgang damit ist aber nicht gut. Ich glaube dennoch, dass wir genügend viele Menschen haben, denen Demokratie wichtig ist und die sich engagieren. Also ich habe keine Angst, dass unsere Demokratie zerbröselt, aber ich ärgere mich über die, die nur rummeckern, aber nicht einmal bereit sind, auch nur zum Wählen zu gehen.

Lassalles „Apathie der Massen“ sehen Sie aktuell nicht?
Nein. Was er damals ansprach, war ja nicht etwa die Ablehnung der Demokratie, sondern die Ohnmacht der Menschen.

Auch die Angst vor den Repressalien der Obrigkeit...
Natürlich. Das war doch ganz anders als heute. Da haben wir Gott sei Dank Fortschritte erreichen können über die Zeiten.

Die SPD hat in 150 Jahren nur eine einzige Persönlichkeit zum Ehrenvorsitzenden erkoren: Willy Brandt. Wodurch ragt Brandt derart aus allen Sozialdemokraten heraus?
Ich würde doch, neben Brandt, auch August Bebel nennen. Das ist zwar schon ein bisschen weiter weg, aber über ihn muss man bei dieser Frage auch reden. Bebel wurde 1840 geboren. Als er 1869 die Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei gründete, gemeinsam mit Karl Liebknecht, da war er 29 Jahre alt, sozusagen eine Art Juso. 1875 hat Bebel erheblich dazu beigetragen, dass in Gotha der Einigungskongress zustande kam und die verschiedenen Strömungen, die Lassalleaner und die Eisenacher, sich fanden. Er hat das zusammengeführt. August Bebel war ein großer Sammler. Ich weiß nicht, ob ohne Bebel die Sozialdemokratie überhaupt diese Größe und Stärke gewonnen hätte. Er hat auch das Ganze zusammengehalten, als 1878 bis 1890 die Sozialistengesetze galten und die Sozialdemokraten unterdrückt waren. Auf dem Erfurter Parteitag 1891 waren dann plötzlich eine Million Mitglieder da. August Bebel hatte das große Glück, dass er 73 Jahre alt geworden ist – und das war für damalige Verhältnisse relativ viel – und er bis 1913 die große, dominierende Figur der Sozialdemokratie war. Deshalb würde ich ihn historisch schon in der allerersten Reihe sehen, neben und mit Willy Brandt. Ich habe auch eine große und gute Meinung von Helmut Schmidt. Er hat sich damals mit uns Jüngeren oft gestritten, aber er hatte immer eine große politisch-philosophische Qualität. Er war ein erstklassiger Kanzler. Schmidt wusste immer, dass man pragmatisches Handeln braucht, aber auch Grundwerte, die Basis des Handelns sind. Sittliche Zwecke - so nannte er das.

Und Brandt?
Willy Brandt ist unbestritten für unsere Generation und auch für mich einer der ganz Großen. Ich habe ihn ja noch nah erlebt. Er war ein Sozialdemokrat aus Überzeugung, aber auch einer, der die Gesamtverantwortung sah. Als er als Parteivorsitzender ging, hat er uns zwei ganz wichtige Dinge mit auf den Weg gegeben, an die zu erinnern sich immer wieder lohnt. Er sagte: „Wenn Ihr mich fragt, was das Wichtigste ist, sage ich Euch: Neben dem Frieden die Freiheit.“ Aber er betonte, es gehe ihm dabei nicht um die Freiheit weniger, sondern um die Freiheit vieler, möglichst aller, die Freiheit von Not und die Freiheit von Unterdrückung. Brandt war ein großer liberaler Mann. Die klassisch sozialdemokratischen Werte sind nur mit Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität komplett beschrieben. Und das hat ihn ausgemacht. Als Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ sagte, war das für uns als damals jüngere Generation ein Fanal. Denn wir lebten ja zu der Zeit in einer ziemlich vermieften Republik. Brandt hat da vieles angestoßen. Er wurde stark angefeindet, als Vaterlandsverräter und uneheliches Kind und was an politischem Quatsch da sonst noch alles erzählt wurde. Heute ist er respektiert und geachtet, aber damals war Willy Brandt schon eine sehr umstrittene Figur in Deutschland.

Sie sagten, es gab noch einen zweiten Leitgedanken, als er ging.
Ja, das Zweite, das er uns gesagt hat: „Wenn du etwas sehr wichtiges Politisches willst, was noch nicht populär ist, dann musst du dich entscheiden: Entweder du vergisst es oder du musst es populär machen.“ Brandt stand also für Ausdauer. Er hat diese Ausdauer, etwa mit seiner Ostpolitik, auf die Chance gerichtet, zur Entspannung beizutragen. Natürlich ist die Mauer von den Menschen in Ostdeutschland umgestoßen worden. Und Helmut Kohl hatte Recht, als er die Einheit dann schnell realisierte. Aber: Wenn es zuvor Brandt und seine Mitstreiter nicht gegeben hätte, dann wäre das alles zwischen Ost und West und auch in Deutschland nicht möglich geworden. Und darauf bin ich als Sozialdemokrat auch stolz.

1863 gab es auf deutschem Boden noch Dutzende von Kleinstaaten. Heute ist eines der großen Schlagwörter die Globalisierung. Auch hier hat sich die programmatische Herausforderung für die SPD dramatisch verändert, oder?
Ja, da gab es ja schon ganz am Anfang einen großen Unterschied. Die Lassalleaner waren 1863 preußenorientiert. Die erste Sozialdemokratie entstand im Grunde preußisch, jedenfalls nicht deutschlandweit.

Wurde aber im Königreich Sachsen, in Leipzig, gegründet...
Ja, schon, aber das hing wohl vor allem mit den Zugverbindungen zusammen.

Wieso denn das?
Na, man musste die Delegierten ja irgendwo zusammenbringen. Das war doch gar nicht so leicht. Denken Sie doch mal daran: 1864 wurde die erste Schreibmaschine erfunden. Jede Kommunikation lief über handgeschriebene Briefe und war mit einer Sauarbeit verbunden, da konnte man nicht schnell mal eine SMS schicken. Alles musste über lange Zeit vorbereitet werden. Als sie dann schließlich zusammen kamen, waren es Delegierte aus wenigen deutschen Städten, 11 insgesamt, sie vertraten 400 Mitglieder. Die Bebels und die Liebknechts haben dann 1869 – also zwei Jahre vor Entstehung des deutschen Nationalstaats – eine erste gesamtdeutsche Partei gewollt und auch organisiert. Sie haben erkannt: Es geht nicht nur um Preußen, es geht um alle deutschen Lande. Damit hatten sie ganz sicher Recht, aber vorher war es ein Streitpunkt.

Und jetzt bewerben sich diese Ideen um Zustimmung in der ganzen Welt...
Klar, die internationale Idee war schon am Anfang immer auch dabei. Man hat mit Marx und Engels und dem internationalen Sozialismus engen Kontakt gehabt, die haben korrespondiert untereinander, die waren sich ja nicht fremd, teils und zeitweise befreundet. Aber die Sozialdemokraten haben eine eigene realistische Linie gefunden für ihr Land. Bebel war eben nicht nur ein Sammler und ein Führer, sondern auch ein Mensch, der sehr realistisch urteilte, der sehr pragmatisch handeln konnte. Immer wieder zusammenführen, Kompromisse schließen, versuchen, erst im Kleinen durchzusetzen, was nicht sofort im Großen möglich ist. Mit Ausdauer voran.

Diese Linie mit Freiheit, Frieden, Solidarität möchte die SPD nun auch über Grenzen hinweg fortsetzen? In Europa? Auf der ganzen Welt?
Ich glaube, die Idee der Sozialdemokratie eignet sich sehr gut für das, was in der Welt zu tun ist. Wobei: Wenn ich so in die Welt gucke, kann ich nicht gerade sagen, dass die Demokratie auf dem Vormarsch wäre. Da steht der Finanzkapitalismus dagegen, der mit Umfang, Tempo und Radikalität zum Problem wird. Demokratie braucht, das erfahren wir gerade in den letzten Jahren, ein menschenadäquates Tempo. Man muss Zeit haben, Informationen aufzunehmen, darüber zu reden, nachzudenken und dann auch abzustimmen. Wenn das mit Algorithmen besetzte Maschinen machen, dann ist das hochgefährlich für die Demokratie. Das ist ein Aspekt, der mich damals zu der Aussage mit den „Heuschrecken“ gebracht hat. Ich bin ja kein Finanzexperte, aber mir war und ist klar und bewusst, dass das, was passiert, für die Demokratie als solche sehr gefährlich ist. Weil Geld jenseits der demokratischen Strukturen versucht, die Dinge zu bestimmen und zu lenken. Und Nationalstaaten können nur noch bedingt steuernd eingreifen und dagegen halten. Es gibt zur Zeit keinen Primat der Politik weltweit. Deswegen ist es so wichtig, dass Europa zusammenhält. Die Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind Werte, die weltweit tragend sein könnten.

Könnte man denn zuspitzen, dass die Diktatur des Geldes mittlerweile die Diktatur der Despoten ablöst?
Es ist schon so, dass heute der Kapitalismus bestimmt ist von Geldspekulationen und von der Geschwindigkeit seiner Bewegungen und daß er mit Demokratie nichts im Sinn hat. Diktatur? Teils ja, aber die Demokratie kann sich wehren. Sie muss es auch.

Und die Politik kommt bei diesem Tempo regelnd nicht mehr hinterher?
Bisher ist das so. Wir denken nationalstaatlich, wir schwören „Zum Wohl des deutschen Volkes“ zu handeln – aber die Knöpfe für das viele Geld sind doch ganz woanders. Wir tun, was wir können. Aber das ist kein Spiel. Es ist Ernst. Ich bin entsetzt über die Art und Weise, wie rücksichtslos diese Leute in der Welt unterwegs sind. Das ist eine Gefahr für die Demokratie, ohne Frage.

Trübe Aussichten also?
Ach, ich will auch nicht zu pessimistisch klingen. Was ich sehe - und das ist relativ neu - ist, dass jetzt in der Welt so etwas existiert wie eine informelle Fraktion der Menschenrechtler. Anders als vor 150 Jahren, als alles doch noch sehr nationalstaatlich geprägt war, auch nationalistisch, als noch Deutsche und Franzosen und Engländer Krieg führten. Das ist hinter uns. Also: Anders als damals gibt es heute die UNO-Charta mit den Menschenrechten als Grundlage, es gibt unsere europäische Charta, es gibt unser Grundgesetz mit Artikel 1.1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das alles bringt zum Ausdruck, dass es da einen internationalen Konsens gibt. Es gibt noch keine Weltregierung als Organisation. Aber es gibt neben der Politik auch Amnesty und andere NGOs, die eine große Rolle spielen. Auch die Kirchen, in Teilen. Also es gibt heute schon eine internationale Solidarität, die es früher nicht gab. Und diese internationale Komponente wird sicher immer wichtiger werden. Sie muss organisiert werden.

Auf einem Grundgerüst international anerkannter Werte, die nicht mehr zur Diskussion stehen...
Natürlich. Das zeigt ja auch die Tatsache, dass es internationale Gerichte gibt, vor die man politische Verbrecher stellen kann. Das ist ein Fortschritt. Man muss versuchen, das weiterzuentwickeln. Wie ein solcher globaler Demokratien-Ansatz aussehen kann, muss gelernt werden. Die Sozis von 1925 haben auf ihrem Parteitag in Heidelberg eine Weltregierung gefordert. Die haben wir nicht, die wird es auch so nicht geben, aber: Der Grundgedanke, dass man sich über die nationalen Grenzen hinweg im Grundsätzlichen abstimmen muss, ist natürlich völlig richtig. Und er muss auch praktisch werden.

Dann wollen wir doch die optimistische Stimmung im Gespräch nutzen und einen Ausblick wagen: Am 29. Mai werden Sie zum Parteijubiläum in Hof sprechen, wo die Bewegung dann zehn Jahre nach der Gründung in Leipzig Fuß fasste. Haben Sie schon zwei, drei Kernsätze, die Sie den Genossen hier zurufen wollen?
Überschrift wird sein: „Viel erreicht – Viel zu tun“. Es ist zwar ein Geburtstag, aber auch ein Tag, der uns herausfordert auf dem Weg nach vorne. Wir können stolz sein auf das, was wir insgesamt in der deutschen Geschichte und darüber hinaus als Sozialdemokraten erreicht haben. Aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen.

Die Arbeit ist also noch lange nicht zu Ende?
Natürlich nicht. Da hatte Willy Brandt Recht: „Jede Zeit braucht ihre Antwort.“ Man muss immer auf der Höhe der Zeit sein, um Gutes bewirken zu können. Die Methoden von gestern und vorgestern reichen nicht. Auch die Mechanismen von Politik verändern sich. Also muss man die Werte halten, von mir aus also wertkonservativ sein, aber die Strukturen müssen der Zeit angepasst sein und sich weiterentwickeln.

Diese Antworten zu kommunizieren, das ist dann die große Aufgabe der nächsten Monate bis zur Wahl?
Nicht nur der nächsten Monate. Das ist übrigens auch eher schwierig geworden, weil es in der Medienlandschaft, in der wir uns heute bewegen, ja nicht so ganz leicht ist, die Menschen zu erreichen. Dass ist im Vergleich zum Gründungsjahr ja auch ein tiefgreifender Unterschied, über den man mal kurz sprechen muss. Damals, 1863, war die Hälfte der Menschen in Deutschland Analphabeten. Da gibt es die schöne Geschichte von den Zigarrendrehern, die in Zehnergruppen arbeiteten: Neun von denen machten die Arbeit für zehn und drehten Zigarren. Der zehnte aber las vor aus einer Zeitung oder aus einem Buch, das gemeinsam gekauft wurde. Es gab in Leipzig eine Zeitung und eine in Berlin, aber man wusste voneinander gar nicht, was beim anderen drinstand. Deshalb war die Kommunikation zum Beispiel zwischen Bebel und Lassalle ja auch so schwierig. Heute funktioniert die Medienwelt fundamental anders. Das bedeutet natürlich auch: neue Bedingungen für die Politik. Die Frage heute ist eher: Wie behalten wir in der Informationsmasse die Übersicht? Was von dem, was ich erfahren kann, ist eigentlich wichtig? Auch diese ganz anderen Informationsstrukturen verändern natürlich die Handlungsweise, die Methoden von Politik.

Also wieder eine neue Herausforderung für die SPD? Fundamentale Werte und darüber der Zwang zum methodischen Anpassen – das bleibt immerwährende Aufgabe in der Parteigeschichte?
Ja, so ist das wohl.


Zur Person:
Franz Müntefering, geboren am 16. Januar 1940 in Neheim im Hochsauerland, war zwei Mal Bundesvorsitzender der SPD – zunächst von März 2004 bis November 2005 und noch einmal von Oktober 2008 bis November 2009. Von 1998 bis 1999 war er Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, von 2002 bis 2005 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Als Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales war Franz Müntefering von 2005 bis 2007 Mitglied im ersten Kabinett von Angela Merkel, CDU. Derzeit ist er Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Bei der Bundestagswahl im Herbst 2013 will der heute 73-Jährige nicht mehr kandidieren.