Die Thüringer-Wald-Autobahn gilt als das Vorzeigeprojekt des Verkehrswegebaus der heutigen Zeit. Welche Auswirkungen dieses Projekt nach seiner Fertigstellung für die Verkehrsströme in Deutschland haben wird, wollten wir von Prof. Matthias Gather wissen, dem Institutsdirektor des Instituts Verkehr und Raum der Fachhochschule Erfurt.

Welche Bedeutung hat diese Autobahn?

M. Gather: Aus Thüringer Sicht schafft die A 71 / A 73 zunächst eine richtige Straßenverbindung zwischen Mittel- und Südthüringen, ebenso verbessert sie aber auch die Erreichbarkeit Thüringens aus Richtung Süden ganz enorm. Sie ist das Gegenstück zur ICE-Trasse, dem Verkehrsprojekt 8.1/8.2 auf der Schiene. Von allen Verkehrsprojekten Deutsche Einheit ist diese Autobahn sicher das spektakulärste Projekt, das die größte Beachtung bekommt. Das hängt natürlich mit den ingenieurtechnischen Leistungen zusammen – dem längsten Straßentunnel Deutschlands oder auch den größten Brücken. Es gibt meines Wissens keine andere Autobahn, die so aufwendig trassiert wurde.

Das wurde ja gemacht, um die Eingriffe in die Natur gering zu halten.


M. Gather: So ist es. Ein Merkmal ist auch, dass die Autobahn aufgrund der Topografie – anders als zum Beispiel die A 4 oder die A 9 – kaum ebenerdig verläuft. Die neu gebaute Ostsee-Autobahn A 20 hat ebenfalls nicht wenige Konfliktpunkte mit dem Naturschutz – dennoch verläuft sie zu einem großen Teil ebenerdig. Wir sprechen hier von der Trassengleichlage. Auf der A 71 und auch auf weiten Teilen der A 73 gibt es viele Einschnitte, Tunnel und Brücken. Das ist schon eine Sehenswürdigkeit für sich. Man hat es ja selten, dass die Leute hierher kommen, um sich die Bauwerke anzuschauen. Welche Wirkung auf den Verkehr die Strecke haben wird, das muss man allerdings noch abwarten.

Die Verkehrsprognosen sprechen von 25.000 Fahrzeugen am Tag, die bis zum Jahr 2012 erreicht werden.

M. Gather: Das ist natürlich nicht besonders viel. Im Schnitt haben wir auf bundesdeutschen Autobahnen 45.000 bis 50.000 Fahrzeuge am Tag. Das macht so ein bisschen die Kehrseite der Medaille – einerseits die sehr aufwendige Trassierung und auf der anderen Seite das niedrigere Verkehrsaufkommen. Für die kleinen Orte, durch die der Verkehr bisher rollte, sind 10.000 bis 20.000 Autos am Tag weniger freilich eine enorme Entlastung.

Die Autobahn ist als Verkehrsprojekt Deutsche Einheit gebaut worden, mit dem Ziel, Ost und West zueinander zu bringen. Wird sie diesem Anspruch gerecht?

M. Gather: Nach dem Fall der Mauer hat es ja zunächst mit kleinen Nebenstrecken angefangen, auf denen die Lücken geschlossen wurden. Man muss zunächst die Erreichbarkeit von Ost und West verbessern, dann wird der sich entwickelnde Verkehr zum Ausdruck des Zusammenwachsens. Und somit war die Entscheidung, zu sagen: Wir bauen die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, vor allem eine zutiefst politische Entscheidung. Das wird bei keinem anderen Vorhaben so augenfällig wie bei den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit. Sie bilden quasi das Scharnier für die Angleichung.

Kommt mit der Autobahn der Aufschwung?

M. Gather: Das wird, glaube ich, überbewertet. Ich habe schon vor ein paar Jahren bei der Industrie- und Handelskammer in Suhl dazu einen Vortrag gehalten und empfohlen: Man muss einfach besser sein als andere. Wenn eine Region etwas zu bieten hat, ihre Potenziale aber wegen der schlechten Anbindung nicht ausschöpfen kann, dann bringt eine Autobahn auch etwas. Warum also sollte nicht eine Region wie Südthüringen dank Autobahn ihre Waren und Dienstleistungen im Raum Nürnberg oder im Raum Erfurt anbieten? Das ist eine Chance. Wenn jedoch die anderen besser sind, dann kann es für solche Räume auch problematisch werden. Wir haben vor einiger Zeit eine Untersuchung angestellt zur Frage, was eine Autobahn für die regionale Entwicklung bewirkt. Dabei gab es kein einheitliches Bild. Man kann also nicht sagen, dort, wo eine Autobahn ist, da gibt es blühende Landschaften und dort, wo keine Autobahn ist, bricht die Welt zusammen. Solch eine Schwarz-Weiß-Malerei hilft nicht weiter, die betreibt auch niemand. Man muss sich selbst helfen – und hierbei kann eine Autobahn nützlich sein.

Eine Besonderheit der Thüringer-Wald-Autobahn ist das umgekehrte Ypsilon, weil man nicht doppelt das Rennsteig-Massiv queren wollte. Hätten zwei Autobahnen noch mehr regionale Erschließung gebracht ?

M. Gather: Wohl kaum. Wer auf jeden Fall von der Autobahn profitiert, das sind die Knotenpunkte. Das heißt allerdings auch, dass Erfurt mehr von der Thüringer-Wald-Autobahn hat als Suhl. Man hört in letzter Zeit zum Beispiel viel von Leuten, die aus Nordbayern, aus Coburg, aus Schweinfurt oder sogar Würzburg, nach Erfurt zum Einkaufen fahren, aber nicht nach Suhl. Die sind auch vorher nicht nach Suhl gefahren. Wir werden dazu weiter forschen, um etwa herauszufinden, wie sich zum Beispiel die Einzugsbereiche verändern. Wobei wir auch in den dürren Statistiken, die wir haben, feststellen konnten, dass sich hinsichtlich der gesamten Umsätze der Einzelhandel in Suhl besser entwickelt als im Umland. Das dürfte vor allem dem Trend zur Zentralisierung geschuldet sein. Am meisten davon profitieren dürfte allerdings der großflächige Einzelhandel, der sich gezielt nahe der Autobahn angesiedelt hat.

Nach der Fertigstellung der A 71 war ein Effekt, dass auf den Ski-Parkplätzen in Oberhof viele Schweinfurter Kennzeichen zu sehen waren...

M. Gather: Das ist der Punkt: Man muss besser sein als andere. Dann fahren die Leute aus Franken auch nicht ins Fichtelgebirge, sondern in den Thüringer Wald. Der Wettbewerb nimmt zu, weil es mehr Wahlmöglichkeiten gibt. Das ist für den Tourismus eine riesige Chance. Aber der Tourismus muss gut sein, er muss Qualität bieten. Dann kommen die Leute auch, dann hilft Erreichbarkeit.

Bisher haben wir über regionale Verkehrsströme gesprochen. Die Thüringer-Wald-Autobahn ist aber auch eine Nord-Süd-Achse. Wird sich hier durch die Fertigstellung etwas verändern?

M. Gather: Der Güterverkehr in Deutschland geht vor allem in Richtung der Nordseehäfen, also hauptsächlich in Richtung Hamburg. Hier hat die A 71/73 also nicht die besondere Rolle. Zu bestimmten Zeiten, wenn die A 9 und die A 7 überlastet sind, könnte es allerdings schon eine Ausweichstrecke sein. Wir haben jedoch auch von Lkw-Fahrern gehört, dass ihnen diese Strecke zu bergig ist, dass sie hier nicht so flüssig fahren könnten. Lkw-Fahrer reagieren sehr sensibel auf Steigungen und versuchen zum Beispiel auch die Kasseler Berge zu meiden. Wir haben es bei dem Verkehr auf der Thüringer-Wald-Autobahn daher auch viel mit regionalem Quell- und Zielverkehr zu tun. Die regionale Erschließung, die Anbindung Südthüringens nach Nürnberg, Schweinfurt und Erfurt, das ist die wichtigste Funktion. Wir haben hier eine Regional-, weniger eine europäische Transitautobahn.

Auf alten Autobahnkarten bildet die Region zwischen A 7 im Westen und A 9 im Osten sowie der A 4 im Norden und der A 70 im Süden einen weißen Fleck. Dass der jetzt geschlossen ist, bedeutet das, dass hier Gerechtigkeit geschaffen wurde?

M. Gather: Hier ist sicher ein gewisser Lückenschluss erfolgt. Wenn man sich einmal die allerersten Autobahnplanungen anschaut, dann fällt auf, dass Erfurt-Nürnberg schon immer eine Relation war, die bedient werden sollte. Das Problem war, dass im Westen parallele Achsen entstanden sind. Eine Strecke wie Würzburg Fulda hätte man ohne die deutsche Teilung wahrscheinlich nie gebaut. Die wäre immer über Erfurt geführt worden. Denn das ist der natürliche Korridor. Weil es aber östlich und westlich der A 71 bereits solche Verkehrsadern gibt, ist eine gewisse Erreichbarkeit schon vorhanden gewesen.

Wenn jemand anderthalb Stunden fahren muss, um zur nächsten Autobahnauffahrt zu kommen, kann es mit der Erreichbarkeit nicht weit her sein. Man hört deshalb viel von der Vorgabe, dass es nicht mehr als 40 Kilometer sein sollten...

M. Gather: Es gab in den 70er Jahren in der alten Bundesrepublik den Verkehrsminister Georg Leber. Der hatte zum Ziel erklärt, kein Teil Deutschlands solle mehr als 25 Kilometer von der nächsten Autobahn entfernt sein. Hier ist man inzwischen einen Schritt weiter, weil man sagt, nicht die Autobahn ist entscheidend, sondern die Erreichbarkeit. Wenn sich die Erreichbarkeit ohne Autobahn herstellen lässt, dann ist das ebenso in Ordnung. Es gibt Gegenden auf der Landkarte, die sind weiter als 40 Kilometer von der Autobahn entfernt. Man muss bedenken: Autobahn ist ja kein Selbstzweck. Man will ja irgendwo hin.

Während der Planung der Thüringer-Wald-Autobahn gab es auch Forderungen, statt einer Autobahn eine „vierspurige Bundesfernstraße“ zu bauen. Wäre das eine Alternative gewesen?

M. Gather: Das ist immer die Frage, wie leistungsfähig solch eine Straße sein soll. Hat man weniger Bedarf, dann kann dies durchaus funktionieren. Es gibt etwa die B 6 neu im Harz, die so eine Lösung darstellt. Das umgekehrte Beispiel ist die A 44 Kassel – Eisenach, eine Strecke, die für Thüringen auch sehr wichtig ist: Diese Strecke hat einen Verlauf, der eher dem einer Bundesstraße entspricht, obwohl es sich hier um eine Autobahn handelt. Sie schwenkt um viele ökologische Konfliktpunkte herum, versucht jede Gemeinde anzubinden. Auch an der A 71/73 ist die Dichte der Anschlussstellen sehr hoch - kein Vergleich zu einer klassischen Autobahn wie der A 9, wo vielleicht alle 25 Kilometer eine Anschlussstelle kommt.

Interview: J. Wenzel