Marktredwitz Der größte Umweltskandal Deutschlands

Das frühere Eingangsportal zur Chemischen. Foto: Peggy Biczysko

Die Chemische Fabrik in Marktredwitz beherrschte mehr als ein Jahrzehnt die Schlagzeilen. Mitten im Zentrum der Stadt schlug eine tickende Zeitbombe. Heute steht hier das Kösseine-Einkaufs-Centrum.

 
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Es war ein Umwelt-Krimi, der bundesweit seinesgleichen suchte: der Skandal um die Chemische Fabrik in Marktredwitz. Mehr als zehn Jahre lang beherrschte das Thema nicht nur die Schlagzeilen der Frankenpost, sondern gar den deutschen Blätterwald und auch mehrere Fernsehsendungen. Gift- und Altlasten-Experten gaben sich seit Anfang 1985 in Marktredwitz die Klinke in die Hand. Nicht nur Behörden, auch Politiker, Beamte, Ärzte und Bürger waren völlig überfordert, als peu à peu ans Licht kam, dass die Innenstadt und der Fluss Kösseine mit Quecksilber verseucht sind. Vom anfänglichen Wegsehen über das Aufdecken des Skandals dieser tickenden Zeitbombe bis hin zur jahrelangen, rund 100 Millionen Euro teuren Sanierung war es ein weiter, schmerzhafter Weg, auf dem auch die mit dem Thema befassten Redakteure der Frankenpost immer wieder als Nestbeschmutzer beschimpft worden waren. Nur, weil sie ihre Aufgabe wahrgenommen und über die unglaublichen Vorgänge unterrichtet hatten.

Gemunkelt wurde schon lange hinter vorgehaltener Hand, dass da hinterm Zaun der Chemischen Fabrik im Herzen der Stadt Chemikalien - in erster Linie Quecksilber - im Erdreich versickern und Blechtonnen in irgendwelchen Ecken mit wabernder, undefinierbarer Brühe vor sich hinrosten. "Im Falle eines Brandes hätte die Innenstadt evakuiert werden müssen", räumte nach der Schließung der damalige, längst verstorbene Landrat Christoph Schiller ein. Wahrlich eine tickende Zeitbombe, vor der Behörden, Politiker und die CFM-Geschäftsführung die Augen verschlossen.

Bereits 1982 war bei Arzberg in Fischen - also etliche Kilometer östlich der Fabrik - Quecksilber festgestellt worden. Und Eier von Hühnern, die auf den Überschwemmungsflächen an der Kösseine bei Wölsau Nahrung gepickt hatten, enthielten 40-mal so viel Quecksilber wie erlaubt. Die damalige Geschäftsführung der CFM dementierte, dass das giftige Schwermetall aus der Fabrik stammt. Im Juni 1983 genehmigte die Stadt Marktredwitz, damals unter Oberbürgermeister Hans-Achaz von Lindenfels, dem Unternehmen unter der Leitung von Oskar Tropitzsch, die Abwässer in die städtische Kanalisation einzuleiten. Zuvor leitete die Chemische ihre Abwässer in die neben der Fabrik fließende Kösseine ein. Noch im Mai 1984 sagte von Lindenfels: "Die Produktion muss zum Schutz von Arbeitsplätzen erhalten werden." Und er hatte die Marktredwitzer abwiegelnd belehrt, man solle nicht von "vergiftet" sprechen, sondern von der "Überschreitung bestimmter Grenzwerte".

Doch schon ein Jahr nach der Genehmigung drohte die Stadt mit einem Einleitungsverbot. Messungen ergaben, dass der Klärschlamm zu viel Quecksilber enthält und nicht mehr als Dünger in der Landwirtschaft verwendet werden darf. In einem Pressegespräch am 20. Dezember 1984 teilte von Lindenfels mit, dass die Höchstmenge an Quecksilber - 780 Gramm -, die dem Klärwerk zugeführt werden darf, erheblich überschritten worden sei. Messungen hätten fast fünf Kilogramm ergeben.

Im Dezember 1984 wurde 30 Mitarbeitern der Chemischen gekündigt, "weil die hohen Umweltschutz-Auflagen nicht mehr zu verkraften sind". Waren anfangs immer noch die rund 60 Arbeitsplätze ins Feld geführt worden, um eine Schließung der Firma zu verhindern, so ging ab Juli 1985 gar nichts mehr. Die Chemische musste ihre Produktion auf Geheiß des Landratsamts Wunsiedel, das auch die Staatsanwaltschaft einschaltete, komplett einstellen. Am 18. Juni hatte eine Untersuchung des Wassers ergeben, dass der Höchstwert ums 400-Fache überstiegen worden ist. Eine Betriebskontrolle brachte ans Licht, dass ein Leck im desolaten Kanalsystem der Fabrik schuld daran war. Am 11. Juli 1985 untersagte das Landratsamt den weiteren Betrieb "wegen Unzuverlässigkeit". Die Betriebsräume wurden versiegelt. Firmenchef Oskar Tropitzsch entrüstete sich darüber, "weil die Firma regelmäßig kontrolliert wurde, und zwar gleich mehrmals im Jahr". Das ließ die Behörden in ein schlechtes Licht rücken, denn schon 1981 hatte das Gewerbeaufsichtsamt Bayreuth Quecksilberkügelchen in der Firma entdeckt und festgestellt, dass Dämpfe ins Freie geleitet wurden - aber dazu geschwiegen. Wie viele andere auch, die um die Vorgänge in der Chemischen wussten.

Es habe gleich mehrere Verstöße gegen Umweltvorschriften gegeben, berichtete unsere Zeitung damals. So seien größere Mengen giftiger Stoffe völlig unsachgemäß auf dem Firmengelände gelagert worden und quecksilberverseuchte Abwässer in den Boden und in die Kösseine gelangt. Der damalige Oberstaatsanwalt Oskar Rauch erklärte dazu: "Es besteht ein vager Verdacht, dass bei der unerlaubten Verbrennung giftiger Abfälle in der chemischen Fabrik Dioxin in die Luft abgegeben worden ist." Ein Großbrand in der Fabrik könnte eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auslösen. Der Rechtsdirektor der Stadt Marktredwitz, Peter Nietsch, nahm’s eher gelassen: "Ich gehe nicht davon aus, dass wir auf einem Pulverfass sitzen."

Auf wenig Gehör stießen seinerzeit die ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden Johann Bäuml und Klaus Kunz. "Das Kesselhaus steht auf einem chemischen Müllberg", sagte Bäuml. Er selbst habe gesehen, wie eine Grube im Kesselhaus mit Fässern voller Giftmüll zugeschüttet worden sei. In der Erde eingebaute Tanks seien entfernt und die so entstandenen Gruben mit verseuchten Abfällen aufgefüllt worden, ehe man sie zubetoniert habe. "Schon 1975 hat die Berufsgenossenschaft gesagt, der Betrieb müsse eigentlich zugesperrt werden", so Bäuml damals. Bei vielen Mitarbeitern habe der höchst zulässige Quecksilbergehalt im Urin teilweise das Zehnfache betragen. Sogar Dr. Hans Wieding, bis 1981 der Betriebsarzt der Chemischen, bestätigte, dass er und auch das Gewerbeaufsichtsamt "alle Augen zugedrückt hatten, weil stets die Arbeitsplätze auf dem Spiel standen".

Im Oktober 1985 rechnete der Marktredwitzer Oberbürgermeister noch mit einer zehn Millionen Mark teuren Sanierung. Dass er sich damit ordentlich verkalkulierte, sollte sich zehn Jahre später herausstellen: Da lag die Rechnung schon bei mindestens 150 Millionen Mark, für die der Steuerzahler zur Kasse gebeten wurde.

Täglich wurde bei den Aufräumarbeiten in der Skandal-Fabrik Neues gefunden. Woche für Woche schafften 16 Arbeiter einer Berliner Sanierungsfirma 24 Tonnen Abfälle aus der Fabrik - in Schutzanzügen und Gasmasken, während wenige Meter weiter hinter einem Zaun das Leben normal weiterging. Bis Oktober 1986 waren 162 840 Liter flüssige Giftstoffe in der Fabrik gefunden worden.

Derweil formierten sich die Grünen und ließen auf eigene Kosten Bodenproben im Stadtgebiet nehmen. Mit dem Ergebnis, dass der Volksfestplatz, ein Kinderspielplatz und ein privater Kleingarten "zum Teil hochgradig verseucht sind". Herbert Deyerling, damals Sprecher der Grünen im Landkreis Wunsiedel, nannte dieses Ergebnis eine "Bankrotterklärung der offiziellen Informationspolitik des Landratsamtes".

Der Skandal um die Chemische Fabrik hatte natürlich auch ein gerichtliches Nachspiel: Ende 1986 begann die juristische Aufarbeitung. Gegen die Tropitzsch-Vettern Oskar und Dr. Rolf - der war erst kurz vor dem Auffliegen der Vertuschungen zur Firma gestoßen - wurde ebenso Haftbefehl erlassen wie gegen Betriebsleiter Willi Köllner. Gegen Kaution wurde dieser jedoch aufgehoben. Am 10. Februar 1989 fällte die Erste Strafkammer des Landgerichts Hof das Urteil. Statt Gefängnis- gab es Geldstrafen: 110 000, 80 000 und 10 500 Mark.

Mittlerweile galt das Grundstück, auf dem die Chemische Fabrik stand, als herrenlos, was bedeutete, dass der Steuerzahler für die komplette Entsorgung aufkommen musste. Insgesamt ging es um die Reinigung und Beseitigung von 152 000 Tonnen quecksilberverseuchten Materials, wie der oberfränkische Regierungspräsident Wolfgang Winkler am 18. Februar 1987 verkündete.

Der Skandal um die Chemische reicht auch noch Jahrzehnte danach bis in die Gegenwart. Bis heute werden alljährlich die Fische aus der Kösseine auf ihren Quecksilbergehalt hin überprüft. Heute steht hier im Herzen der Stadt das Kösseine-Einkaufs-Centrum (KEC).

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