Doch schon ein Jahr nach der Genehmigung drohte die Stadt mit einem Einleitungsverbot. Messungen ergaben, dass der Klärschlamm zu viel Quecksilber enthält und nicht mehr als Dünger in der Landwirtschaft verwendet werden darf. In einem Pressegespräch am 20. Dezember 1984 teilte von Lindenfels mit, dass die Höchstmenge an Quecksilber - 780 Gramm -, die dem Klärwerk zugeführt werden darf, erheblich überschritten worden sei. Messungen hätten fast fünf Kilogramm ergeben.
Im Dezember 1984 wurde 30 Mitarbeitern der Chemischen gekündigt, "weil die hohen Umweltschutz-Auflagen nicht mehr zu verkraften sind". Waren anfangs immer noch die rund 60 Arbeitsplätze ins Feld geführt worden, um eine Schließung der Firma zu verhindern, so ging ab Juli 1985 gar nichts mehr. Die Chemische musste ihre Produktion auf Geheiß des Landratsamts Wunsiedel, das auch die Staatsanwaltschaft einschaltete, komplett einstellen. Am 18. Juni hatte eine Untersuchung des Wassers ergeben, dass der Höchstwert ums 400-Fache überstiegen worden ist. Eine Betriebskontrolle brachte ans Licht, dass ein Leck im desolaten Kanalsystem der Fabrik schuld daran war. Am 11. Juli 1985 untersagte das Landratsamt den weiteren Betrieb "wegen Unzuverlässigkeit". Die Betriebsräume wurden versiegelt. Firmenchef Oskar Tropitzsch entrüstete sich darüber, "weil die Firma regelmäßig kontrolliert wurde, und zwar gleich mehrmals im Jahr". Das ließ die Behörden in ein schlechtes Licht rücken, denn schon 1981 hatte das Gewerbeaufsichtsamt Bayreuth Quecksilberkügelchen in der Firma entdeckt und festgestellt, dass Dämpfe ins Freie geleitet wurden - aber dazu geschwiegen. Wie viele andere auch, die um die Vorgänge in der Chemischen wussten.
Es habe gleich mehrere Verstöße gegen Umweltvorschriften gegeben, berichtete unsere Zeitung damals. So seien größere Mengen giftiger Stoffe völlig unsachgemäß auf dem Firmengelände gelagert worden und quecksilberverseuchte Abwässer in den Boden und in die Kösseine gelangt. Der damalige Oberstaatsanwalt Oskar Rauch erklärte dazu: "Es besteht ein vager Verdacht, dass bei der unerlaubten Verbrennung giftiger Abfälle in der chemischen Fabrik Dioxin in die Luft abgegeben worden ist." Ein Großbrand in der Fabrik könnte eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auslösen. Der Rechtsdirektor der Stadt Marktredwitz, Peter Nietsch, nahm’s eher gelassen: "Ich gehe nicht davon aus, dass wir auf einem Pulverfass sitzen."
Auf wenig Gehör stießen seinerzeit die ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden Johann Bäuml und Klaus Kunz. "Das Kesselhaus steht auf einem chemischen Müllberg", sagte Bäuml. Er selbst habe gesehen, wie eine Grube im Kesselhaus mit Fässern voller Giftmüll zugeschüttet worden sei. In der Erde eingebaute Tanks seien entfernt und die so entstandenen Gruben mit verseuchten Abfällen aufgefüllt worden, ehe man sie zubetoniert habe. "Schon 1975 hat die Berufsgenossenschaft gesagt, der Betrieb müsse eigentlich zugesperrt werden", so Bäuml damals. Bei vielen Mitarbeitern habe der höchst zulässige Quecksilbergehalt im Urin teilweise das Zehnfache betragen. Sogar Dr. Hans Wieding, bis 1981 der Betriebsarzt der Chemischen, bestätigte, dass er und auch das Gewerbeaufsichtsamt "alle Augen zugedrückt hatten, weil stets die Arbeitsplätze auf dem Spiel standen".
Im Oktober 1985 rechnete der Marktredwitzer Oberbürgermeister noch mit einer zehn Millionen Mark teuren Sanierung. Dass er sich damit ordentlich verkalkulierte, sollte sich zehn Jahre später herausstellen: Da lag die Rechnung schon bei mindestens 150 Millionen Mark, für die der Steuerzahler zur Kasse gebeten wurde.
Täglich wurde bei den Aufräumarbeiten in der Skandal-Fabrik Neues gefunden. Woche für Woche schafften 16 Arbeiter einer Berliner Sanierungsfirma 24 Tonnen Abfälle aus der Fabrik - in Schutzanzügen und Gasmasken, während wenige Meter weiter hinter einem Zaun das Leben normal weiterging. Bis Oktober 1986 waren 162 840 Liter flüssige Giftstoffe in der Fabrik gefunden worden.
Derweil formierten sich die Grünen und ließen auf eigene Kosten Bodenproben im Stadtgebiet nehmen. Mit dem Ergebnis, dass der Volksfestplatz, ein Kinderspielplatz und ein privater Kleingarten "zum Teil hochgradig verseucht sind". Herbert Deyerling, damals Sprecher der Grünen im Landkreis Wunsiedel, nannte dieses Ergebnis eine "Bankrotterklärung der offiziellen Informationspolitik des Landratsamtes".
Der Skandal um die Chemische Fabrik hatte natürlich auch ein gerichtliches Nachspiel: Ende 1986 begann die juristische Aufarbeitung. Gegen die Tropitzsch-Vettern Oskar und Dr. Rolf - der war erst kurz vor dem Auffliegen der Vertuschungen zur Firma gestoßen - wurde ebenso Haftbefehl erlassen wie gegen Betriebsleiter Willi Köllner. Gegen Kaution wurde dieser jedoch aufgehoben. Am 10. Februar 1989 fällte die Erste Strafkammer des Landgerichts Hof das Urteil. Statt Gefängnis- gab es Geldstrafen: 110 000, 80 000 und 10 500 Mark.
Mittlerweile galt das Grundstück, auf dem die Chemische Fabrik stand, als herrenlos, was bedeutete, dass der Steuerzahler für die komplette Entsorgung aufkommen musste. Insgesamt ging es um die Reinigung und Beseitigung von 152 000 Tonnen quecksilberverseuchten Materials, wie der oberfränkische Regierungspräsident Wolfgang Winkler am 18. Februar 1987 verkündete.
Der Skandal um die Chemische reicht auch noch Jahrzehnte danach bis in die Gegenwart. Bis heute werden alljährlich die Fische aus der Kösseine auf ihren Quecksilbergehalt hin überprüft. Heute steht hier im Herzen der Stadt das Kösseine-Einkaufs-Centrum (KEC).