Nach Mordanklage gegen Kollegen Die Revolte der Londoner Polizisten

Peter Nonnenmacher
Tausende haben in London im September 2022 nach dem gewaltsamen Tod des 24-jährigen Chris Kaba gegen rassistische Polizeigewalt protestiert. Foto: imago/T/ayfun Salci

Die Metropolitan Police schlittert von einer Krise zur nächsten. Nun wollen Hunderte Polizisten erst einmal keine Waffen mehr tragen, weil ihnen nicht gefällt, dass einer ihrer Kollegen des Mordes an einem unbewaffneten schwarzen Mitbürger angeklagt worden ist.

 
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In eine schwere Krise hat die aktuelle Revolte bewaffneter Polizeibeamter die Metropolitan Police in London – die größte Polizeistreitkraft Europas – geführt. Die Met, die wegen Korruption, Rassismus und sexueller Übergriffe in den vergangenen Jahren schon scharf verurteilt wurde, hat Unruhe und Streit, auch in den eigenen Reihen, provoziert.

Dass seit dem Wochenende rund 300 Angehörige der bewaffneten Einsatzkräfte in London ihre Waffen abgelegt haben und sich weigern, ihren Dienst wie erwartet zu versehen, zwang die Regierung bereits dazu, bewaffnete Einheiten aus anderen Landesteilen anzufordern. Zeitweise wurde sogar die Armee aufgefordert, sich in Bereitschaft zu halten für den Fall eines Terroranschlags im Hauptstadt-Bereich.

Mordanklage gegen einen ihrer Kollegen

Ausgelöst hatte die Protestaktion bewaffneter Polizisten die Mordanklage, die gegen einen ihrer Kollegen erhoben worden ist. Der anonym gebliebene Polizeibeamte hatte im vorigen September in Süd-London einen unbewaffneten schwarzen Mitbürger, den 24-jährigen Chris Kaba, mit einem Kopfschuss durch die Fahrerscheibe hindurch getötet.

Gegen den Polizisten wurde vorige Woche vor Gericht Anklage erhoben. Das Verfahren gegen ihn ist für nächstes Jahr geplant. Viele Kollegen des Beschuldigten wollen die Mordanklage aber nicht hinnehmen. Sie fürchten, wie Einzelne von ihnen der Londoner „Times“ gegenüber erklärten, dass sie selbst einmal vor Gericht landen könnten – „in der Erfüllung unserer Pflicht“.

Innenministerin stellt sich hinter die Rebellen

Unmittelbare Unterstützung erhielten die praktisch in den Streik getretenen Inhaber von Waffenscheinen von Innenministerin Suella Braverman, die in der Regierung den rechten Flügel der Konservativen Partei repräsentiert. Sie wolle dafür sorgen, meinte die Ministerin, dass Polizisten, die nur ihre Pflicht täten, nicht mehr so leicht vor Gericht gestellt werden könnten wie bisher.

„Wir brauchen unsere tapferen bewaffneten Polizisten, damit sie uns vor den gefährlichsten und gewalttätigsten Elementen unserer Gesellschaft beschützen“, sagte sie. „Im Interesse der öffentlichen Sicherheit müssen sie unter außergewöhnlichem Druck blitzschnelle Entscheidungen treffen. Sie sollen nicht in Angst leben müssen, dass sie eines Tages auf der Anklagebank sitzen, nur weil sie ihrem Auftrag nachgekommen sind.“ Premierminister Rishi Sunak stimmte Braverman zu: Die bewaffneten Polizisten, denen das ganze Land „Dank für ihre Tapferkeit“ schulde, benötigten „Klarheit“ und „Gewissheit“ im Rechtsbereich.

Polizeichef betont Rolle der Selbstverteidigung

Mehr Schutz für Polizisten und mehr Verständnis für deren schwierige Lage in unvorhersehbaren Situationen seien hier vonnöten, mahnte danach auch Londons Polizeipräsident Sir Mark Rowley. Rowley fordert eine „Überholung“ geltender Gesetze in dieser Frage. Der Polizeichef wünscht sich generell weniger Untersuchungen von Polizeiaktionen und mehr Berücksichtigung „der Notwendigkeit der Selbstverteidigung“.

Mit diesen Forderungen zog sich Rowley aber seinerseits Kritik zu. Ausgerechnet der Polizeichef, der jüngst angetreten sei, um die schwer ins Trudeln geratene Met zu reformieren, stelle nun eine dringend nötige „robuste Überwachung“ der Polizei infrage, zürnte am Dienstag der liberale Londoner „Guardian“.

Viele Belege für eine Kultur selbstherrlichen Handelns

Noch im Mai hatte Rowley eine grundlegende „Erneuerung der Polizeiarbeit“ versprochen, um verlorenes Vertrauen der Bevölkerung in die Londoner Polizei wieder zu gewinnen. Seine aktuelle Forderung, die bewaffnete Polizei weniger als bisher zur Verantwortung zu ziehen, hat zu erneuten Rufen nach einer Auflösung der Metropolitan Police geführt.

Tatsächlich findet sich die Londoner Polizei rundum in der wohl ernstesten Krise seit vielen Jahrzehnten. In mehreren Untersuchungen ist ihr in jüngster Zeit bescheinigt worden, dass in ihren Reihen eine „Kultur selbstherrlichen Handelns“ herrsche und sie „institutionell korrupt, rassistisch, sexistisch und homophob“ sei. Gewalt gegen Frauen – auch gegen Polizistinnen – wurde wiederholt herausgestrichen.

Nicht allen Polizisten finden Verhalten ihrer Kollegen gut

Auch unter Polizisten gibt es Kritik am aktuellen Boykott. Die Interessenverbände schwarzer Polizisten etwa nannten die Aktion „fast schon eine Art Erpressung“. Immerhin sei man zur Polizeiarbeit eingeschworen worden, „und nicht zur Arbeit als Scharfrichter“.

Lord Macdonald, ein früherer Leiter der Strafverfolgungsbehörde, fügte hinzu: „Die Polizei kann kein Veto haben über Entscheidungen, die Staatsanwälte bei der Strafverfolgung treffen. Wenn Polizisten sich weigern, ihre Arbeit zu tun, weil ein Beamter angeklagt worden ist, und die Innenministerin das unterstützt, dann haben wir kein funktionsfähiges Rechtssystem mehr.“

Britische Polizisten traditionell unbewaffnet

Bobbys
 Die meisten Polizisten auf den Britischen Inseln sind unbewaffnet. Für bewaffnete Einheiten ist ein spezielles Training erforderlich. In London haben knapp 2600 der 34 000 Polizeibeamten Zugang zu Waffen. Zu ihren Aufgaben gehören Anti-Terror-Maßnahmen und Prominentenschutz.

Todesopfer
Die Zahl der Todesopfer durch Polizeischüsse in London liegt niedrig. Seit 1990 soll im Schnitt ein Mensch pro Jahr auf diese Art getötet worden sein.

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