Nachkriegsgeschichte Das deutsche Persil-Wunder

Christian Göller
Mit präziser Auswahl gestalteten Edmund Frey und Brigitte Maisch eine Geschichtsstunde der besonderen Art über den Entnazifizierungsprozess in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Foto: /Christian Göller

Nach dem Krieg gab es plötzlich nur noch Mitläufer. Dem sonderbaren Verschwinden der Nazis widmete sich ein musikalisch-literarischer Abend im Kunstverein.

 
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Coburg - „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen.“ Mit diesem Song leiteten Stephan Mertl als Vokalist und Dagmar Weiß am Akkordeon einen Lesungsabend der besonderen Art ein. Denn die Veranstaltung mit dem Motto „Plötzlich gab es keine Nazis mehr“ befasste sich mit den vielen Facetten des Entnazifizierungsprozesses vom Kriegsende bis zur Zeit der Studentenrevolte 1968. Für den historisch fundierten Hintergrund und eine gelungene Moderation sorgten Historiker der Edmund Frey und Brigitte Maisch, die Leiterin der von der Stadtbücherei. Der Abend war eine Koproduktion von Stadtbücherei, Literaturkreis und Kunstverein und fand unter 3G-Bedingungen statt.

Mit dem Ende des Krieges stellte sich, wie in dem Zarah-Leander-Song, doch ein Wunder ein, denn als die Besatzungsmächte darangingen, das Erbe des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und Deutschland zu demokratisieren, wollte plötzlich keiner mehr das verbrecherische System unterstützt und Mitschuld getragen haben.

Die präzise Auswahl der Texte und Lieder, die Stephan Mertl zum Vortrag brachte, befasste sich oft satirisch mit der Gemengelage. Denn zeitgenössische Kabarettisten und Texter wussten nur zu gut, wie man künstlerisch den Finger in diese Wunde legte. Stand man doch vor einer Mammutaufgabe, denn beispielsweise 70 Prozent der Lehrer und 90 Prozent der Justizkräfte waren Parteiangehörige gewesen.

Befassten sich die Texte hauptsächlich mit der allgemeinen Situation in Deutschland zu dieser Zeit, so gab es doch immer wieder Bezüge zu Coburg, das mit seiner braunen Vergangenheit quasi eine Modellstadt dafür war, wie der Entnazifizierungsprozess in vielen Fällen ablief: Vielfach kamen Personen, die in das NS-System verstrickt gewesen waren, vor allem durch „Persilscheine“ als vermeintlich harmlose Mitläufer davon.

Edmund Frey berichtete in diesem Zusammenhang über die Spruchkammerverfahren des Industriellen Max Brose und des Aristokraten Carl Eduard von Coburg. Einer der wichtigsten Impulse, Deutschland zu entnazifizieren, kam da aus einer ganz anderen Warte: durch die Kultur der amerikanischen Besatzungsmacht. Denn die Amerikaner „missionierten“ vor allem die jungen Deutschen durch Jazzmusik und Rock’n’Roll. Die Jungen warfen durch den neuen Lebensstil gerne alte Ideologien über Bord. Und so durfte eine Bill Haley-Einlage des Duos Mertl/Weiß nicht fehlen.

Die Beispiele von alten Nazis, die ihre Karriere fast nahtlos in der jungen Bundesrepublik fortsetzen konnten, waren an diesem Abend Legion. Edmund Frey und Brigitte Maisch berichteten, dass eigentlich erst mit der Studentenbewegung in der Gesellschaft ernsthafter mit dieser Problematik umgegangen wurde. Und so endete die Veranstaltung mit dem gemeinsamen Absingen der Bürgerrechtshymne „We shall overcome“.

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