Rainer Eppelmann in Coburg Als die Angst die Seiten wechselte

Rainer Eppelmann, evangelischer Pfarrer, DDR-Bürgerrechtler und Politiker, bei seinem Vortrag über Freiheit am Vorabend des Reformationstags in der Morizkirche Coburg; rechts die Büste von Martin Luther, der vor einem halben Jahrtausend an gleicher Stelle gepredigt hat. Foto: Wolfgang Braunschmidt

Rainer Eppelmann spricht in der Morizkirche in Coburg über Freiheit, die es in der DDR bis 1989 nicht gab. Demokratie, Diktatur und die Corona-Pandemie sind seine Themen.

 
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Coburg - Am Ende seines gut einstündigen Vortrags am Samstagabend in der Coburger Morizkirche verrät Rainer Eppelmann seinen Zuhörerinnen und Zuhörern seinen größten Wunsch: Er, der am 12. Februar 1943 in Berlin geboren ist, möchte mindestens 93 Jahre alt werden. „Warum?“, fragt Eppelmann, und gibt sich selbst die Antwort. „Ich war 46 Jahre alt, als die DDR aufgehört hat zu existieren. An meinem 93. Geburtstag könnte ich sagen, jetzt lebe ich ein Jahr länger in der Demokratie, als ich vorher in der Diktatur leben musste“. Was das bedeutet, hat der evangelische Pfarrer, DDR-Bürgerrechtler und Politiker zuvor in eindringlichen Worten geschildert.

„Eine Freude“

Eppelmann ist auf Einladung des evangelisch-lutherischen Dekanats nach Coburg gekommen. Am Vorabend des Reformationsfestes, dem 31. Oktober, gibt das Dekanat einen Empfang. 2020 musste er wegen der Corona-Pandemie ausfallen. Schon damals sollte Rainer Eppelmann darüber sprechen, wie man ernst macht mit der Freiheit, die ihm - wie allen Bürgerinnen und Bürgern der Deutschen, angeblich demokratischen Republik - vorenthalten wurde. Eppelmann, der heute Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist, holt am Samstag seinen Besuch in Coburg nach.

Das bezeichnet Dekan Stefan Kirchberger, der die geladenen Gäste in der Morizkirche auch im Namen von Dekan Andreas Kleefeld begrüßt, als eine Freude. Der Anlass ist ein Markstein in der Geschichte der evangelischen Kirche: 1520 hat Martin Luther eine seiner wichtigsten Schriften, die „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, in Wittenberg veröffentlicht. Und 501 Jahre später spricht einer, der weiß, was Freiheit in einer Diktatur und einer Demokratie bedeutet und welche Verantwortung sich daraus ergibt, in der Kirche in Coburg, in der schon Martin Luther gepredigt hat.

Schimpfwort „Du Deutscher“

Rainer Eppelmann beginnt seine Zeitreise im Jahr 1945. Damals sei „Du Deutscher“ das schlimmste Schimpfwort in Europa gewesen. Davon habe man sich in der Bundesrepublik lösen können, indem eine Demokratie aufgebaut wurde, was den Menschen zunächst sicher schwergefallen sei. Sie hätten sich aber gemeinsam auf den Weg gemacht, aufgebaut, repariert, Neues geschaffen, Hilfe in Anspruch genommen und so Vertrauen in ihr Land wachsen lassen. „Die Deutschen konnten wieder gute Nachbarn sein“, sagt Eppelmann. Ohne diese Leistung zwischen 1945 und 1989, vor allem ohne dieses wieder gewonnene Vertrauen, „hätte man in Europa nicht ja gesagt zu dem was damals passiert ist“: die Wiedervereinigung Deutschlands und mir ihr das Ende der DDR-Diktatur.

Eppelmann schildert eindringlich und mit vielen Beispielen, wie anders die Entwicklung in der DDR verlief. Er beschreibt den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde – und das, obwohl den Menschen in der DDR angeblich ein Demonstrationsrecht zustand. Es gab Tote, und es folgten Hunderte von Inhaftierungen. Die letzten damals nach demokratischen Grundsätzen zu Unrecht Verurteilten kamen erst 20 Jahre später frei.

Coburg wäre leer

Er beschreibt den Mauerbau 1961, nachdem jeden Tag 15 000 Menschen aus der DDR „abgehauen“ seien. Coburg mit seinen 41 000 Einwohnern wäre bei solch einer Fluchtbewegung binnen drei Tagen leer gewesen, rechnet Rainer Eppelmann vor. Insgesamt haben vier Millionen Menschen der DDR den Rücken gekehrt – bei 16 Millionen Einwohnern, sagt der ehemalige Bürgerrechtler. Wer bei der Flucht erwischt wurde, „landete im Knast“. Die Bundesrepublik zahlte drei Milliarden D-Mark, um einige von ihnen freizukaufen. Nicht dagegen richte sich seine Kritik, sondern gegen die DDR, „dass am Ende des 20. Jahrhunderts Politiker ihre Bürger verkauften“.

Er berichtet, wie Menschen vom Kindesalter an bei den „jungen Pionieren“ und in der „Freien Deutschen Jugend“ auf den Sozialismus im „Arbeiter- und Bauernstaat“ eingeschworen wurden. Wer sich dem widersetzte, wurde ausgeschlossen, beispielsweise vom Abitur und vom Studium – wie er. Eltern gerieten in Gewissenskonflikte: Sollten sie sich dem System widersetzen und dafür ihren Kindern „das Leben versauen?“ Wieder eine Frage, die Eppelmann unbeantwortet im Raum stehen lässt, weil sich die Antwort von selbst ergibt.

Lügen

Er zeigt auf, wie der Staat über Zeitungen und das staatliche Fernsehen die Menschen Tag für Tag belogen hat „und was es mit einer Gesellschaft macht, die die Regierenden für blöde halten“. Sicher, es habe einige gegeben, „die fanden die DDR schön“; die große, schweigende Mehrheit habe sich aber ihrem Schicksal ergeben. Die nächste Frage: „Was macht das mit einem Menschen? Macht es ihn gehorsam, feige?“ Eppelmann könne sich des Eindrucks nicht erwehren, die DDR-Oberen hätten so gehandelt, wie es Friedrich der Große, Kurfürst von Brandenburg, im 17. Jahrhundert niedergeschrieben hat: „Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.“

Das System in der DDR sei das Gegenteil von dem gewesen, was Jesus schon in seiner Bergpredigt gesagt habe: Man solle Verständnis haben für den Lebensplan anderer Menschen, für ihre unterschiedliche Sicht der Dinge, sie so achten, wie man selbst geachtet werden wolle. Das sei in der DDR mitnichten der Fall gewesen. Rainer Eppelmann findet deutliche Worte: „Ich halte das System, in dem ich 46 Jahre leben musste, für ein unmenschliches. Ich weiß darum und wundere mich, wenn Leute darüber streiten, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht.“

Die Rolle der Kirchen

Natürlich geht er auch auf die Rolle der Kirche bei der friedlichen Revolution in der DDR ein, beschreibt, wie Politik in Gottesdiensten überhaupt möglich war, wie sich immer mehr Menschen davon angezogen fühlten und die Regierenden mit dieser Entwicklung nicht umzugehen wussten. Ein Superintendent habe das 1989, nach der Oktober-Demonstration in Leipzig mit Zehntausenden Menschen, so beschrieben: „Jetzt hat die Angst die Seiten gewechselt!“

Den Gästen des Empfangs des evangelischen Dekanats Coburg gibt Rainer Eppelmann mit auf den Weg, „seien Sie froh darüber, dass Sie die Diktatur nicht erleben mussten“. Und richtet den Appell an seine Zuhörerinnen und Zuhörer in der Morizkirche, „die Freiheit weiter für wichtig zu halten“. Dabei sollte man nicht vergessen, dass grenzenlose Freiheit „nur auf einer einsamen Insel funktionieren kann“, aber nicht, wenn Menschen zusammenleben, die ihre eigenen Vorstellungen vom Leben haben. Freiheit bedeute auch Verantwortung, die sich darin zeige, die eigene Freiheit zu leben, ohne anderen Chancen zu nehmen oder Schaden zuzufügen.

Dies gelte im Rückblick auf die DDR und ganz aktuell in der Corona-Pandemie. Wieder stellte Eppelmann Fragen: „Ich lasse mich nicht impfen, obwohl das andere gefährdet? Ist meine Freiheit so wertvoll, dass mir die anderen scheiß egal sind?“ Solle jeder seine eigene Freiheit leben können - trotz der schrecklichen Bilder von den Corona-Toten in Italien, trotz der Infiziertenzahlen in Großbritannien und dem Massensterben in Brasilien?

„Wo alles dunkel ist, macht Licht“

Rainer Eppelmann, der evangelische Pfarrer, schließt mit einem Gedicht des katholischen Priesters Lothar Zenetti: „Was keiner wagt, das sollt ihr wagen. Was keiner sagt, das sagt heraus. Was keiner denkt, das wagt zu denken. Was keiner anfängt, das führt aus. Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen. Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein. Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben. Wenn alle mittun, steht allein. Wo alle loben, habt Bedenken. Wo alle spotten, spottet nicht. Wenn alle geizen, wagt zu schenken. Wo alles dunkel ist, macht Licht.“

Als das letzte Wort verklungen ist, brandet in der Morizkirche Beifall auf. Coburgs evangelischer Dekan Stefan Kirchberger spricht von einer fesselnden, packenden und motivierenden Geschichtsstunde, die Rainer Eppelmann gegeben habe. Kirchbergers Fazit: Für Christen sei es ein Auftrag, die Freiheit hoch zu halten und sich für sie einzusetzen, dabei aber auch in Verantwortung für andere zu gehen.

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