Mädchen und Jungen gleichermaßen betroffen
Betroffen waren nach Angaben der Wissenschaftler bei den Pfadfindern ebenso viele Mädchen wie Jungen. Die Täter seien allerdings nahezu ausschließlich männlich. Dabei gebe es „zwei Prototypen“, heißt es in der Studie: der ältere, erwachsene Pfadfinder und der Jugendliche oder junge Erwachsene, „der seine Stellung als Leitungsfigur benutzt, um Jüngere sexuell auszubeuten“.
Die „riskantesten Orte“ waren laut der Studie, Pfadfinderlager, Reisen und Stammestreffen. Übergriffe habe es „im Rahmen von Spielen und Ritualen“ gegeben, aber auch in privaten Situationen; wenn Kinder und Jugendliche nach Hause gefahren worden seien beispielsweise.
Die Situation bei den Pfadfindern sei „sehr spezifisch“, sagte Peter Caspari vom IPP, und mit der in der katholischen Kirche beispielsweise schwer zu vergleichen. Hier seien „sehr junge Menschen in Verantwortungssituationen gefangen“. Das sei ein „großer Unterschied zu anderen Tatkontexten wie katholische Kirche, wo es klare Hierarchien von Erwachsenen gab, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind“.
Eine weitere Besonderheit bei den Pfadfindern: Weil oft sehr junge Leute in Leitungsfunktionen seien, sei es nicht ganz einfach, zwischen völlig einvernehmlichen Beziehungen unter Jugendlichen und denen, in denen jemand seine Macht missbraucht, zu unterscheiden.
Schwerpunkt der Studie im Zeitraum 1976 bis 2006
Das IPP München, das unter anderem sexuelle Gewalt in der Odenwaldschule und im oberbayerischen, katholischen Kloster Ettal untersucht hat, hat die Studie gemeinsam mit „Dissens – Institut für Bildung und Forschung“ in Berlin durchgeführt. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Jahren zwischen 1976 und 2006. Die Forscher gehen von einem großen Dunkelfeld aus - unter anderem, weil aus einigen Bundesländern überhaupt keine Informationen geliefert worden seien.
Caspari sagte, es gebe Andeutungen, dass Menschen sehr viel wussten, aber nichts sagen wollten, seine IPP-Kollegin Helga Dill vom IPP berichtete von „anonymen Briefen, in denen schwere Formen von sexualisierter Gewalt geschildert wurden“. Als mögliche Gründe, warum Opfer bis heute schweigen, nannte sie Angst vor dem Täter, aber auch „überdauernde Loyalitäten gegenüber der eigenen Pfadfindergruppe“, das Festhalten an einem Idealbild. Man wolle kein Nestbeschmutzer sein. Außerdem sei die Angst groß, nicht mehr dazuzugehören.
Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder wurde 1976 gegründet, ist nach eigenen Angaben interkonfessionell und überparteilich und erreicht rund 30 000 Mitglieder. Ziel seiner pädagogischen Arbeit soll es sein, Kindern und Jugendlichen „Gemeinsinn und Verantwortung, Weltoffenheit und Umweltbewusstsein“ zu vermitteln.
„Wir sind erschüttert, an wie vielen Stellen es dem BdP in der Vergangenheit nicht gelungen ist, seine Mitglieder vor sexualisierter Gewalt und (Macht-)Missbrauch zu schützen“, teilte die BdP-Bundesvorsitzende Annika Schulz mit. „Es wurde geschwiegen, weggesehen.“ Caspari wird deutlicher: Der Umgang mit Betroffenen sei „von Ignoranz geprägt“ gewesen. „Aus den Augen, aus dem Sinn.“