Talisman aus der Türkei Blaues Glas gegen den bösen Blick

Susanne Güsten

Ein stilisiertes Auge ist in der Türkei bei Einheimischen und Touristen beliebt. Mit dem Islam hat das nichts zu tun. Im Gegenteil. Doch die Angst vor Missgunst ist älter als monotheistische Religionen.

 
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So türkisch wie Tee und Sesamkringel: Nazar Boncugu – die blaue „Perle gegen den Bösen Blick“ Foto: imago/Michael Eichhammer

Perlen, Perlen und noch mehr Glasperlen, blau und mit einem stilisierten Auge verziert: weißer Kreis auf blauem Grund, darin ein hellblauer Kreis und ein schwarzer Punkt als Iris. Millionenfach werden diese Amulette in der Türkei verkauft, an Touristen wie Einheimische, als Schmuck, Talisman und als Souvenir. „Nazar Boncugu“ heißt das Amulett auf Türkisch, das bedeutet „Perle gegen den Bösen Blick“.

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Mit dem Islam hat das nichts zu tun. Im Gegenteil: Fromme Muslime dürften die blauen Glasperlen eigentlich nicht tragen. Doch die Türken lassen sich davon nicht stören, denn die Angst vor dem bösen Blick ist älter als Islam oder Christentum. Bei Touristen ist das Amulett ein beliebtes Mitbringsel, mit der billigen Glasperle erwerben sie ein Stück jahrtausendealter Kultur von Mesopotamien und dem östlichen Mittelmeer.

Jahrtausende alter Volksglauben

Der Tahtakale-Markt am Goldenen Horn in Istanbul ist der zentrale Umschlagplatz für diese Amulette. Das habe Tradition, sagt der Großhändler Erdem, der in seinem Laden in Tahtakale über tausend Varianten der blauen Glasperle anbietet: „Diesen Laden hat mein Großvater gegründet, ich führe ihn in der dritten Generation.“ Von pfannengroßem Wandschmuck über Schlüsselanhänger bis hin zu winzigen Ohrsteckern reicht das Angebot im Laden.

„Der böse Blick, so glaubt man, ist eine negative Energie, die ein Mensch auf seine Umwelt und andere Menschen ausstrahlen kann und schlimme Folgen verursacht“, erklärt der Händler. Nicht jeder Mensch habe den bösen Blick, fügt Erdem hinzu: „Menschen mit farbigen Augen, also helläugige Menschen, strahlen mehr negative Energie aus und können anderen Leuten damit schaden.“

Ein Geschenk zum Einzug in die neue Wohnung

Ein weit verbreiteter Volksglaube ist das. In Tahtakale sind die Rentnerinnen Hayrünissa und Sükran unterwegs, um Perlen zu kaufen. Hayrünissa zeigt auf ein kunstvoll gearbeitetes Auge an ihrem silbernen Armband – ein Geschenk von ihrer Nichte. „Um den bösen Blick abzuwenden, trägt man das – das ist einfach eine Tradition“, sagt sie.

Auch als Aufmerksamkeit für Freunde und Verwandte eigne sich das Amulett, ergänzt ihre Freundin Sükran. „Wenn jemand in eine neue Wohnung zieht, dann schenkt man ihm so eine Perle, damit sie nicht vom bösen Blick getroffen wird“, erzählt sie. „Wenn ein Kind geboren wird, steckt man ihm eine blaue Perle an, damit es nicht den bösen Blick anzieht. Man hängt es auch zuhause auf, als Schutz und Schmuck.“ Woher der Brauch komme, wüssten sie nicht.

Verbotene Vielgötterei oder harmlose Folklore?

Jahrtausende alt ist die Angst vor dem bösen Blick, das haben Ausgrabungen in Mesopotamien gezeigt, bei denen primitive Amulette mit eingeritzten Augen gefunden wurde. Die Theorie von der negativen Energie in den Augen verbreitete auch der Philosoph Plutarch, der im ersten Jahrhundert nach Christus am Tempel von Delphi als Priester diente. Erwähnung findet der böse Blick in den heiligen Schriften der Weltreligionen.

„Die Natur des bösen Blicks ist zwar nicht mit Sicherheit bekannt, aber wir nehmen in unserem Glauben an, dass manche Menschen mit ihrem Blick negative Ereignisse verursachen können“, sagt der Theologe Hüseyin Ari vom Hohen Glaubensrat des türkischen Religionsamtes. Das heiße aber nicht, dass man sich mit einem Amulett wie der blauen Perle vor dem bösen Blick schützen könne oder dürfe, unterstreicht der Gelehrte. „Unsere Religion verbietet alle Handlungen und Überzeugungen, die ihre Wirkung etwas anderem zuschreiben als Gott.“

Wer glaube, sein neugeborenes Kind mit der blauen Perle vor dem bösen Blick schützen zu können, oder wer ein solches Amulett in seinen neu eröffneten Laden hängt, um ihn vor dem bösen Blick zu schützen, der mache sich der Vielgötterei schuldig, warnt auch der Prediger Kerem Önder vom türkischen Nakschibendi-Orden. Um sich vor dem bösen Blick zu schützen, rät Önder stattdessen zu Goldmünzen. „Wenn man dem Baby eine Goldmünze auf die Schulter heftet, lenkt das den Blick des Betrachters von seinem Gesicht ab und zieht ihn auf das Gold“, sagt der Prediger. „Denn die Leute sind gierig und sehen zuerst aufs Gold.“

Das Amulett mit dem blauen Auge ist in der Türkei überall

So dringend die Theologen auch davon abraten: Das Amulett mit dem blauen Auge ist in der Türkei quasi überall – in Wohnungen, Lokalen, Läden und Büros an den Wänden oder als Schmuck am Körper. Das sei keineswegs gottlos, sagt der Juwelier Hasip, der auf Schmuck mit dem blauen Auge spezialisiert ist. „Diese Perle symbolisiert das Gebet, sie ist Ding gewordenes Gebet“, erklärt er. „Sie kann negative Energie ziehen, weil ihr Wesen eigentlich im Gebet besteht.“

Beliebt sei die blaue Perle bei Menschen aller Glaubensrichtungen, bestätigt ein Amulett-Händler namens Zeydan: In seinem Laden hängen die blauen Augen zwischen Marien-Ikonen und islamischen Gebetsketten. „Wir exportieren diese Amulette nach Irak, nach Amerika und bis nach Argentinien“, sagt Zeydan. „Muslime kaufen sie Perlen, Christen kaufen sie, alle kaufen sie.“ Und Hayrünissa, die fröhliche Rentnerin mit dem Amulett am Arm, gibt kichernd zu: „Wir wissen schon irgendwo, dass das keine Wirkung hat. Aber naja, wir stecken sie trotzdem an.“