Tierischer Einsatz Verzickte Rettung

Pia Bayer

Am Freitag, 2. September, hält eine junge Ziege Autobahnmeisterei, Verkehrspolizei und Tierheim in Schach. Die Autobahn A 70 muss zeitweise gesperrt werden. Ein außergewöhnlicher Einsatz.

 
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„Ich habe sie im Visier und freie Sicht“, meldet ein Beamter der Verkehrspolizei Schweinfurt-Werneck am vergangenen Freitagvormittag via Funk. Den Helfern der Tierschutzinitiative Haßfurt ist klar: Das ist ihre letzte Chance. „Wir bekamen nur noch kurz Zeit“, erinnert sich Yvonne Jung, zweite Vorsitzende der Tierschutzinitiative Haßberge, die auch das Tierheim betreibt – dann hätte Mathilde ihr junges Leben lassen müssen.

Rund drei Stunden dauert der Einsatz am Freitag, 2. September, um eine kleine, freche Ziege direkt an der Autobahn A 70 zwischen Eltmann und Knetzgau zu diesem Zeitpunkt schon. Autobahnmeisterei, Verkehrspolizei und Helfer des Tierheims Haßberge sind seit 7 Uhr morgens im Einsatz. Seit rund 9 Uhr ist außerdem die Autobahn in beiden Richtungen vollständig gesperrt. Etliche Autos warten im Tunnel Schwarzer Berg auf die Weiterfahrt, die Abgase sammeln sich in der Betonröhre. Es ist Gefahr im Verzug.

Mehrere Tage ist „Mathilde“, wie die junge Ziege an diesem Tag von einem Beamten getauft werden wird, bereits an der Autobahn gesichtet worden. Die Autobahnmeisterei ist mehrmals erfolglos ausgerückt, alle bekannten Ziegenbesitzer der Umgebung wurden informiert. Die Limbacher zählen ihre Tiere. Keines fehlt. Schließlich meldet sich der Feuerwehrkommandant aus Limbach, selbst Ziegenbesitzer, am Donnerstag, 1. September, bei einer weiteren Ortseinwohnerin per Telefon: Yvonne Jung, 2. Vorsitzende der Tierschutzinitiative Haßberge.

Die Initiative verfügt über etliches Spezialgerät zur Tierrettung, unter anderem eine Drohne mit Wärmebildkamera, die normalerweise zur Rehkitzrettung eingesetzt wird. Die soll nun zur Hilfe kommen. Noch am Donnerstagnachmittag werden ein Plan geschmiedet und eine Ausnahmegenehmigung für einen Drohnenflug an der Autobahn eingeholt. Freitagfrüh, 7 Uhr, beginnt die Rettung vor Ort.

Die Ausgangssituation

Yvonne Jung stellt ihr Fahrrad auf einer Wiese nördlich des Grünstreifens ab, in dem die Ziege gesichtet wurde. Ihr Ehemann Matthias, ehrenamtlicher Helfer im Tierheim für alle Technikangelegenheiten sowie bei der Rehkitzrettung, positioniert sich unweit davon mit der Drohne auf einer Brücke in der Nähe des Tunnels Schwarzer Berg. Dieser begrenzt den rund zwei Kilometer langen und 15 Meter breiten Grünstreifen in östlicher Richtung, der Parkplatz Spitzberg Nord in die westliche. Im Süden donnern die Autos über die Autobahn.

Tierheimleiterin Britta Merkel, Yvonne Jung und zwei weitere Helfer beziehen als Bodenteam Stellung auf der sicheren Seite des Zauns und laufen einander entgegen, während sich die junge Ziege auf der direkt an die Autobahn angrenzenden Seite des Zauns befindet. Autobahnmeisterei und Verkehrspolizei sperren einen Fahrstreifen ab und beschränken das Tempo auf dem zweiten Fahrstreifen auf 60 km/h. Der Plan: Erst einmal Sichtkontakt herstellen, um das Tier dann einzukreisen. Denn der Grünstreifen ist von dichten, stacheligen Schlehenbüschen durchzogen, ein Durchkommen auf der Seite der Ziege unmöglich.

Keine zwei Minuten vergehen, bis die rund vier Monate alte Ziege vor Yvonne Jung auftaucht. „Es hat überhaupt nicht lange gedauert“, freut sie sich. Das Einfangen allerdings gestaltet sich dann umso schwieriger. Matthias Jung gibt per Funk die Position durch, doch die grellen Farben der Warnwesten verschrecken das Tier schon von Weitem. Zwei Stunden vergehen. „Nachdem die Kleine wieder völlig verschwunden war, waren wir kurz davor, den Einsatz zwangsläufig abzubrechen“, beschreibt das Tierheim-Team.

Kommando zurück

Der Einsatz dauert schlicht zu lange, die Polizei rückt ab. Yvonne Jung jedoch will noch nicht aufgeben. Ein letztes Mal will sie die zwei Kilometer noch einmal vollständig ablaufen. Ihr Mann packt die Drohnenausrüstung schon einmal zusammen. Für die Suche per Wärmebild ist es bereits viel zu warm. Ihm ist langweilig. „Bist du noch weit vom Fahrrad entfernt?“, hakt er kurze Zeit später per Telefon nach. Die Antwort: „Ja.“ Weiter gelangweilt macht er sich schließlich ebenfalls noch einmal auf in Richtung Zaun. „Und da steht sie auf einmal vor mir“, erinnert sich Jung. Er ruft die Autobahnmeisterei an, die sofort umkehrt und die Stelle nochmals absichert. Auch die Polizei rückt erneut an. Innerhalb von zehn Minuten sperren die Beamten mit zwei Streifenwagen die Autobahn komplett. Wo gerade noch das monotone Dröhnen der vorbeifahrenden Autos zu hören war, herrscht mit einem Mal Totenstille. „Die Situation war surreal“, sagt Jung.

Nun hören sich die Helfer per Zuruf und sind nicht mehr auf den Funk angewiesen. Sie nehmen sich das Eck vor, in dem der Schlehenbusch besonders dicht wächst. Der Schutzzaun wird aufgeschnitten. Die Strategie diesmal lautet: Einkreisen, sodass die Ziege nur noch durch das Loch im Zaun entkommen kann oder auf die Autobahn rennen muss. Erneut beweist Mathilde ihren eigenen Kopf. „Sie ist durch die Leute der Autobahnmeisterei durch wie eine Rennsemmel“, erzählt Matthias Jung. Auch bei einem weiteren Versuch mit einem Kescher haben die Helfer „keine Chance“. Nun aber soll die Aktion zu Ende gebracht, an Aufgeben ist nicht mehr zu denken.

Erneut taucht Mathilde nur rund fünf Meter entfernt vor Matthias Jung auf. Das Kraftfutter, mit dem die Ziege in solch einer Situation gelockt werden soll, hat der Drohnenpilot beim Klettern über den Zaun verloren. Der Polizist meldet: „Ich habe sie im Visier und freie Sicht.“ Die Zeit drängt.

Matthias Jung greift zu einem Stück Holz und damit zu einem Trick: Er zerreibt es zwischen den Fingern und hält der Ziege die offene Handfläche mit dem vermeintlichen Futter hin. Mathilde kommt näher. Der Hunger ist größer als die Scheu. Ein letztes Zurückschrecken. Jung kniet nieder und bietet ihr erneut die Hand an. Als Mathilde bis an die Fingerspitzen kommt, nutzt Matthias Jung die Chance und packt sie am Schenkel. „Entweder ziehe ich sie jetzt her und breche ich vielleicht das Bein oder sie wird erschossen“, denkt er. Die Entscheidung ist klar. Der Drohnenpilot wird zum Ziegenretter. Gegen 10 Uhr wird Mathilde mit einer Hundeleine um den Bauch und einem Netz gesichert und in eine Transportbox verladen. Keine halbe Stunde später kommt sie im Tierheim an.

Hier wird sie nun erst einmal gründlich untersucht und soll dann baldmöglichst eine neue Herde finden. „Etliche Interessierte haben sich bereits gemeldet“, freut sich Tierheimleiterin Britta Merkel. „Die Zusammenarbeit war top“, bedanken sich Matthias und Yvonne Jung bei Autobahnmeisterei und Verkehrspolizei noch einmal für den außergewöhnlichen Einsatz.

Weitere Fotos online unter np-coburg.de

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