"Es wird oft nicht nur kommuniziert, dass ein Trinkgeld erwartet wird, sondern auch, in welchem Rahmen es als angemessen angesehen würde", sagt Traxler. Wenn programmierte Werte aber sehr hoch sind (für viele vielleicht sogar unverschämt hoch), fallen zwar einzelne Tips tendenziell höher aus, gleichzeitig aber sinke die Zahl der Leute, die überhaupt Trinkgeld geben. Ein Drahtseilakt, da Kunden angestupst, aber nicht verprellt werden sollen.
Kunden werden an die Gabe des Trinkgelds erinnert
Der Wirtschaftswissenschaftler Sascha Hoffmann von der Hochschule Fresenius in Hamburg sagt, der technische Kniff, beim Bezahlvorgang am Kartenlesegerät an die Gabe eines Trinkgelds zu erinnern, sei für Servicekräfte und Gastronomen extrem hilfreich. Hoffmann hat zu Trinkgeldhöhen geforscht. Er weiß, dass Deutschland im Vergleich nach wie vor ein Bargeld-Land ist, doch der Anteil an Karten- und Smartphone-Bezahlvorgängen wachse.
"Studien zeigen, dass bei Kartenzahlung im Großen und Ganzen weniger Trinkgeld gegeben wird", sagt Hoffmann. "Das wirkt sich unmittelbar negativ auf die Verdienstmöglichkeiten von Mitarbeitenden in der Gastronomie und anderen Dienstleistungsberufen aus. Die Stundensätze sind dort ohnehin nicht besonders hoch und die Angestellten sind besonders auf Trinkgelder als zusätzliche Einkommensquelle angewiesen." Falle das Tip weg, werden die Branchen laut Hoffmann womöglich noch unattraktiver, was den Arbeitskräftemangel in Serviceberufen weiter verschärfen könne (speziell in der Gastronomie).
Schon immer war es für viele Kundinnen und Kunden Stress, vor den Augen einer Servicekraft und gegebenenfalls weiterer Gäste eine gut gerundete Trinkgeldhöhe auszurechnen. Neben Kopfrechenproblemen kämen soziale Normen ins Spiel, da sich die meisten "richtig verhalten" und nicht als knauserig wahrgenommen werden wollten.
Trinkgeld in unüblichen Branchen
Die vermeintliche Hilfe der Kartenlesesysteme, die nun auch in Branchen zum Zuge kommen, in denen Trinkgeldgeben bislang unüblich war (beispielsweise in Bäckereien), könne jedoch problematisch sein, betont Hoffmann. "Insgesamt ist die Gefahr groß, dass Kunden durch die Vorgabe von Trinkgeldhöhen zu einem Verhalten verleitet werden, das sie gar nicht wollen. Heißt: Sie sehen die Vorgaben in der akuten Entscheidungssituation zwar vielleicht als entlastend an, ärgern sich aber im Nachhinein, dass sie zu viel Trinkgeld gegeben haben."
Wenn statt beispielsweise 5, 10 und 15 Prozent gleich 10, 15 und 20 Prozent als Optionen im Raum stehen, könne über den aus der Psychologie bekannten "Hang zur Mitte" eine überhöhte Trinkgeldgabe ausgelöst werden. Auch der Decoy Effect (Köder-Effekt) könne zuschlagen. Wird eine Trinkgeldhöhe absichtlich absurd hoch angesetzt, dann wirken die anderen Vorschläge, die eigentlich ebenfalls zu hoch sind, plötzlich angemessen.
Sogenannte Dark Patterns (manipulative Designgestaltungen) nutzen diese Psycho-Effekte (Hang zur Mitte und Köder-Effekt) aus und können Konsumenten täuschen. Suggestive Designs sind sonst etwa im Online-Marketing verbreitet, wenn versucht wird, die Zustimmung von Website-Besuchern für das Setzen von Marketing-Cookies einzuholen.
Die meisten Tip-Probleme rühren aber wohl von der sozialen Norm her, dass über Geld und damit auch die Höhe des Trinkgelds nicht offen gesprochen wird - schon gar nicht, wenn man als Geizhals gelten könnte.