Haben die Eltern nie daran gedacht, das Land zu verlassen? „Nein, das würden sie nie tun“, ist sich Lena Mörl sicher. „Sie haben noch zwei Kinder in der Ukraine – meinen Bruder und meine Schwester – und ihre Enkel, acht und zehn Jahre alt.“
Ihre Eltern seien jetzt 70 und 71 – bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung in der Ukraine von 72,5 Jahren. Sie seien gesund und würden noch arbeiten. „Sie hoffen, den Frieden noch zu erleben.“
Frieden herrschte noch, als ihre Schwester Irina sie zum Jahreswechsel 2021/2022 in Erfurt besucht habe – erstmals wieder nach 17 Jahren. Das Glück dieser Tage lässt sich an einem Foto erkennen, das am Neujahrstag entstanden ist: Beide Schwestern lieben die chinesische Tuschemalerei, lächelnd halten sie selbst gemalte rote Reispapiere mit chinesischen Schriftzeichen in die Kamera: „Ein gesundes neues Jahr“ ist darauf zu lesen. Keine von ihnen hat damals geahnt, „welcher Wahnsinn uns erwartet“, kommentiert Lena das Foto.
Mittlerweile ist Irina schon längst wieder zurück in Cherson, einer 290 000-Einwohner-Stadt an der Mündung des Dnjepr ins Schwarze Meer, etwa zwei Autostunden von Odessa entfernt. Dort lebt sie mit Mann und zwei Kindern. Der Ort sei für die Russen wichtig, erzählt Lena Mörl, weil sich dort ein Wasserwerk befinde, das die Halbinsel Krim mit Trinkwasser versorgt. „Bereits in den vergangenen acht Jahren, seit der Eroberung der Krim, gab es Probleme, die Menschen dort mit Leitungswasser zu versorgen.“
Cherson sei eine der ersten Städte gewesen, die gleich zu Kriegsbeginn beschossen worden seien, berichtet Lena Mörl. „Die Bewohner waren zehn Tage lang in ihren Wohnungen eingeschlossen, ohne Trinkwasser.“ Es habe Bombardierungen gegeben, „sie hörten laute Geräusche, die sie nicht kannten, sie hatten Angst, rauszugehen“. Erst als der Bürgermeister mit den Russen verhandelt habe, „konnten Chersons Bewohner wieder Lebensmittel und Wasser einkaufen“. Viele Geschäfte hätten auch Nahrung verschenkt, wenn die Leute kein Geld hatten.
Die Stadt verlassen oder fliehen können die Einwohner Chersons nicht: Die Eisenbahnverbindung ist unterbrochen und es gibt kein Benzin. Manche versuchten mit ukrainischen Pässen über die Krim zu fliehen, aber das sei „lebensgefährlich“, so Lena Mörl.
Cherson gilt laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom Montag als erste und bislang einzige Großstadt in der Ukraine, die die Russen eingenommen hatten. Inzwischen haben sie die Kontrolle über die Stadt offenbar wieder verloren.
Die Bewohner von Cherson demonstrierten „regelmäßig friedlich“ gegen die russischen Besatzer, berichtet Lena Mörl. „Sie wollen, dass der Feind das Land verlässt.“ Ihre Schwester beteilige sich nicht an den Protesten. „Sie hat Angst, die Russen beobachten das Geschehen genau.“
Angst haben die beiden Frauen auch um ihren Bruder. Er ist Offizier und lebt in Odessa, der wichtigsten Hafenstadt des Landes, die ebenfalls russische Begehrlichkeiten weckt. Bisher musste er noch nicht zur ukrainischen Armee. „Die Bedingungen in der Armee sind schwierig“, sagt Lena. „Man kommt nicht gesund zurück.“