Ukraine-Krieg Mit den Gedanken bei der Familie im Kriegsgebiet

Beate Franz
Ein Bild aus glücklichen Tagen: Irina (links) aus der Ukraine zu Besuch bei ihrer Schwester Lena in Erfurt. Foto:  

Die ukrainische Region am Schwarzen Meer steht im Fokus von Putins Armee. Da befinden sich strategisch wichtige Ziele wie Odessa oder Cherson. Lena Mörls Eltern und Geschwister leben dort. Sie kam vor 17 Jahren der Liebe und des Studiums wegen nach Deutschland. Aus der Heimat hört sie Beunruhigendes.

 
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Das tägliche Telefonat am Abend mit ihren Eltern und Geschwistern in der Ukraine ist Lena Mörl wichtig. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar auf ihr Heimatland ist für die 46-jährige Deutschlehrerin aus Erfurt, die aus der Region um Odessa am Schwarzen Meer stammt, nichts mehr so wie es war. Oft fliegen die Gedanken zu ihrer Familie ins Kriegsgebiet – und nie kann sie sich sicher sein, „ob sie mir tatsächlich alles erzählen, was passiert“ – einerseits, weil die Gefahr bestehe, dass die Gespräche abgehört werden, andererseits, weil ihre Lieben sie nicht beunruhigen wollten.

Allein die äußeren Umstände aber sind Grund genug, beunruhigt zu sein: Ihre Eltern leben etwa 100 Kilometer nördlich von Odessa in der Stadt Perwomajsk. Zur Zeit des Kalten Krieges waren dort Atomraketen stationiert, die Stadt war Standort einer Raketendivision und hatte um die 100 000 Einwohner, erinnert sich Lena Mörl an ihre Kindheit. Im Zuge der nuklearen Entwaffnung der Ukraine in den 1990er-Jahren seien sämtliche Raketen und Militärs nach Russland verlagert worden, berichtet sie. Heute leben nur noch 25 000 Menschen in der Stadt.

Was ihr besondere Sorge bereitet: „Das Haus meiner Eltern liegt nur wenige Meter neben dem früheren Militärgebäude der Raketendivision.“ Seit der Eroberung der Krim 2014 durch die Russen dienen die alten Kasernen dem ukrainischen Militär als Test- und Übungszentrum. Wohl vor allem deshalb sei Perwomajsk bereits Ziel russischer Angriffe gewesen, berichtet Lena Mörl. Die ballistischen Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern, offenbar von der Krim aus abgefeuert, seien jedoch nicht sehr zielgenau. Es gebe bereits zerstörte Häuser in ihrer früheren Heimatstadt, auch Fabriken oder zivile Gebäude seien getroffen worden.

Perwomajsk gehört zum südukrainischen Distrikt der Stadt Mykolajiw. Aus der Gegend wurden am Dienstag von der Deutschen Presse-Agentur erneut russische Angriffe gemeldet. Nach ukrainischen Angaben sind dort mehrere Menschen getötet und verletzt worden. Der Gouverneur des Gebietes, Witalij Kim, schrieb am Montagabend auf Telegram von elf getöteten und 62 verletzten Menschen. Nach seinen Angaben wurden Wohnhäuser, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen sowie ein Waisenhaus beschossen. 120 Menschen hätten die Stadt am Montag mit Evakuierungsbussen verlassen. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig prüfen.

„Meine Eltern leben in ständiger Angst“, sagt Lena Mörl. Sie hätten bereits versucht, in ihr Gartenhaus umzuziehen, das liege etwa 10 Kilometer vor der Stadt. „Aber es war zu kalt. Fünf Tage haben sie durchgehalten, ohne Heizung, jetzt sind sie wieder zurück in ihrer Wohnung.“ Nachbarn hätten ihnen berichtet, dass sie häufig in ihren Kellern saßen – wegen Luftalarms. Bisher seiPerwomajsk noch relativ verschont geblieben vom Krieg. „Aber wir wissen nicht, wie lange.“

Haben die Eltern nie daran gedacht, das Land zu verlassen? „Nein, das würden sie nie tun“, ist sich Lena Mörl sicher. „Sie haben noch zwei Kinder in der Ukraine – meinen Bruder und meine Schwester – und ihre Enkel, acht und zehn Jahre alt.“

Ihre Eltern seien jetzt 70 und 71 – bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung in der Ukraine von 72,5 Jahren. Sie seien gesund und würden noch arbeiten. „Sie hoffen, den Frieden noch zu erleben.“

Frieden herrschte noch, als ihre Schwester Irina sie zum Jahreswechsel 2021/2022 in Erfurt besucht habe – erstmals wieder nach 17 Jahren. Das Glück dieser Tage lässt sich an einem Foto erkennen, das am Neujahrstag entstanden ist: Beide Schwestern lieben die chinesische Tuschemalerei, lächelnd halten sie selbst gemalte rote Reispapiere mit chinesischen Schriftzeichen in die Kamera: „Ein gesundes neues Jahr“ ist darauf zu lesen. Keine von ihnen hat damals geahnt, „welcher Wahnsinn uns erwartet“, kommentiert Lena das Foto.

Mittlerweile ist Irina schon längst wieder zurück in Cherson, einer 290 000-Einwohner-Stadt an der Mündung des Dnjepr ins Schwarze Meer, etwa zwei Autostunden von Odessa entfernt. Dort lebt sie mit Mann und zwei Kindern. Der Ort sei für die Russen wichtig, erzählt Lena Mörl, weil sich dort ein Wasserwerk befinde, das die Halbinsel Krim mit Trinkwasser versorgt. „Bereits in den vergangenen acht Jahren, seit der Eroberung der Krim, gab es Probleme, die Menschen dort mit Leitungswasser zu versorgen.“

Cherson sei eine der ersten Städte gewesen, die gleich zu Kriegsbeginn beschossen worden seien, berichtet Lena Mörl. „Die Bewohner waren zehn Tage lang in ihren Wohnungen eingeschlossen, ohne Trinkwasser.“ Es habe Bombardierungen gegeben, „sie hörten laute Geräusche, die sie nicht kannten, sie hatten Angst, rauszugehen“. Erst als der Bürgermeister mit den Russen verhandelt habe, „konnten Chersons Bewohner wieder Lebensmittel und Wasser einkaufen“. Viele Geschäfte hätten auch Nahrung verschenkt, wenn die Leute kein Geld hatten.

Die Stadt verlassen oder fliehen können die Einwohner Chersons nicht: Die Eisenbahnverbindung ist unterbrochen und es gibt kein Benzin. Manche versuchten mit ukrainischen Pässen über die Krim zu fliehen, aber das sei „lebensgefährlich“, so Lena Mörl.

Cherson gilt laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom Montag als erste und bislang einzige Großstadt in der Ukraine, die die Russen eingenommen hatten. Inzwischen haben sie die Kontrolle über die Stadt offenbar wieder verloren.

Die Bewohner von Cherson demonstrierten „regelmäßig friedlich“ gegen die russischen Besatzer, berichtet Lena Mörl. „Sie wollen, dass der Feind das Land verlässt.“ Ihre Schwester beteilige sich nicht an den Protesten. „Sie hat Angst, die Russen beobachten das Geschehen genau.“

Angst haben die beiden Frauen auch um ihren Bruder. Er ist Offizier und lebt in Odessa, der wichtigsten Hafenstadt des Landes, die ebenfalls russische Begehrlichkeiten weckt. Bisher musste er noch nicht zur ukrainischen Armee. „Die Bedingungen in der Armee sind schwierig“, sagt Lena. „Man kommt nicht gesund zurück.“

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