Untergang der „Titanic“ Die „Titanic“ – und die Überlebenden

Simon Rilling

Mehr als 1500 Menschen sterben, als die „Titanic“ vor 110 Jahren sinkt. Wir erzählen, was aus sechs der Überlebenden wurde.

 
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Sie galt als unsinkbar – und gingt nach einer Kollision mit einem Eisberg bereits auf ihrer Jungfernfahrt unter. Die Zahl der Geretteten schwankt zwischen 705 und 711. Vom Selbstmörder bis zum Kriegsheld, vom Stummfilmstar bis zum Wimbledon-Gewinner: sechs „Titanic“-Überlebende und ihre Geschichte.

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Der Mann im Krähennest

Frederick Fleet sitzt in jener verhängnisvollen Nacht im Ausguck, meldet „Eisberg hart voraus“. Ein Satz, der ihn berühmt macht, Fleet für seinen Arbeitgeber aber zur Belastung. Denn die Überlebenden der Crew sind eine stete Erinnerung an das bis dato größte Desaster der zivilen Schifffahrt. Vier Monate nach dem Untergang verlässt Fleet die White Star Line und heuert bei einer anderen Reederei an. Ab 1936 arbeitet er als Schiffsbauer für die Harland-&-Wolff-Werft in Belfast und verdingt sich zuletzt, völlig verarmt, als Zeitungsverkäufer in Southampton. 1965, zwei Wochen nach dem Tod seiner Frau, erhängt er sich in seinem Garten. Bestattet wird er in einem Armengrab. Erst 1993 bekommt er, finanziert durch Spenden der Titanic Historical Society, einen eigenen Grabstein.

Die Unsinkbare

Eigentlich sollte Violet Jessop den Passagieren nur vorführen, dass der Einstieg in die Rettungsboote völlig ungefährlich ist, da drückt ihr einer der Offiziere ein Bündel in die Hand. „Kümmern Sie sich um das Baby“, sagt er und lässt das Boot herab. So entgeht die 24-jährige Stewardess mit Rettungsboot 16 einem kalten Tod, als die „Titanic“ am 15. April 1912 im Nordatlantik sinkt. Auch die Kollision der „Olympic“ mit dem Kreuzer „HMS Hawke“ kurz zuvor hatte sie überstanden. Als das zweite Schwesterschiff der „Titanic“, die im Ersten Weltkrieg als Lazarettschiff eingesetzte „Britannic“, 1916 vor Griechenland auf eine Mine läuft und sinkt, ist Jessop ebenfalls an Bord. Diesmal als Rotkreuzschwester. Zwei Rettungsboote werden von den Schiffsschrauben zerschlagen. Jessop sitzt in einem der Boote, springt im letzten Moment ins Wasser – und überlebt.

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Zehn Minuten Ruhm

Vier Wochen nach dem Untergang kommt der erste Film über die „Titanic“ in die Kinos. In der Hauptrolle: Dorothy Gibson, Model, Schauspielerin und „Titanic“-Überlebende, die in „Saved from the Titanic“ das gleiche Kleid trägt wie im Rettungsboot. Der Film ist verloren, Spötter behaupten, Gibsons Kunst sei begrenzt gewesen, dabei verglichen zeitgenössische Kritiker sie mit der Stummfilmlegende Mary Pickford. 1913 überfährt sie mit dem Auto ihres Liebhabers – des verheirateten Filmmoguls Jules Brulatour – einen Passanten. Die Beziehung wird publik, ein Skandal. Es folgt die Heirat, zwei Jahre später verlässt Brulatour sie für eine jüngere Schauspielerin. 1928 lässt sich Gibson in Frankreich nieder, dann in Italien, gilt als Nazi-Sympathisantin, wird 1944 von der Gestapo verhaftet, flieht und stirbt 1946 in Paris im Hotel Ritz an Herzversagen.

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Der traumatisierte Philosoph

Am Anfang steht ein Rosenkrieg. Weil sich Michel und Marcelle Navratil nicht einigen können, wer die beiden Söhne Michel und Edmond bekommt, entführt der Vater die Kinder und bucht unter falschem Namen Tickets für die „Titanic“, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Der Vater geht mit dem Schiff unter, die Kinder gehen mit dem letzten Rettungsboot von Bord und als „Titanic“-Waisen in die Geschichte ein. Erst als ihre Mutter in Marseille eine Zeitungsnotiz über die rätselhaften Buben liest, die Fragen immer höflich, aber stets mit „Oui“ beantworten, endet ihre Odyssee. Edmond wird Architekt, Michel Philosoph. „Ich bin im Alter von vier Jahren gestorben“, erklärt er rückblickend. Die Menschen, die lebend rauskamen, hätten sich das oft ergaunert oder seien aggressiv gewesen: „Die Ehrlichen hatten keine Chance.“

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„Frauen und Kinder zuerst“

Charles Lightoller ist Zweiter Offizier und ranghöchster Überlebender des Unglücks. Er überwacht das Absetzen der Rettungsboote auf Backbord, weist unerbittlich alle männlichen Passagiere ab, zuletzt mit Warnschüssen. Stattdessen schickt er halb volle Boote los, was einen Fehler des Kapitäns offenbart: Der hatte alle Frauen und Kinder nach Backbord geschickt. Nur wer sitzt dann in den Booten auf Steuerbord? Lightoller überlebt auf einem kieloben treibenden Rettungsboot, geht als Letzter an Bord der „Carpathia“. Während des Ersten Weltkriegs befehligt er den Zerstörer „HMS Garry“ und versenkt mit einem Rammstoß ein deutsches U-Boot. Als alliierte Truppen im Zweiten Weltkrieg in Dünkirchen eingekesselt werden, holt Lightoller mit seiner Jacht „Sundowner“ 127 Soldaten über den Kanal. Platz ist eigentlich nur für 21.

Vom Atlantik nach Wimbledon

Das Bootsdeck ist bereits überflutet, als Richard Norris Williams ins Wasser springt. Sein Vater wird von einem Schornstein erschlagen, doch der junge Tennisspieler aus Genf klammert sich an ein vollgelaufenes Rettungsboot, wird reingezogen und harrt stundenlang bis zur Hüfte im eiskalten Wasser aus. Nur elf der 30 Passagiere in Faltboot A überstehen diese Tortur. Als die „Carpathia“ die Überlebenden an Bord nimmt, sind seine Beine lila. Der Bordarzt empfiehlt die Amputation, doch Williams weigert sich. „Die brauche ich noch“, erklärt er und bestreitet Wochen später wieder Turniere, wo er auch gegen Karl Behr spielt, ebenfalls ein Überlebender der „Titanic“. Williams gewinnt 1914 und 1916 die US Open, triumphiert 1920 in Wimbledon im Doppel, holt 1924 Olympia-Gold im Mixed. Auch den Daviscup gewinnt er, fünf Mal.

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