Glauben Sie, dass man mit den richtigen Wörtern denjenigen, die ohnehin schon eine menschenfeindliche Neigung haben, die Hemmungen nehmen kann, Gewalt anzuwenden?
Möglicherweise, wenn es kombiniert wird mit der richtigen Musikwahl. Vielleicht kann im besten orpheus’schen Sinne ein Lied einen Menschen erweichen und gewisse Blockaden lösen. Am krassesten erlebt habe ich das vor 20 Jahren in Hamburg an einer jungen Gruftie-Punkerin – mit Rasierklinge im blauen Haar und Ratte auf der Schulter. Sie sagte mir, ich hätte ihr geholfen, Männer besser zu verstehen. Das hat mich sehr geehrt.
Das Lied „Pervers“ wurde inspiriert durch engstirnige Leute, die alle Menschen, die phantasievoll, bunt und offen leben wollen, als pervers und krank und degeneriert bezeichnen. Wundert es Sie, dass Sie im Jahr 2020 noch solch ein Lied anstimmen müssen?
Es geht in dem Lied nicht nur um sexuelle Vorlieben, sondern um das eigensinnig sein in jeder Beziehung. Was soll ich dazu sagen: Jimi Hendrix ist tot – Andrea Berg lebt. Wir sind kulturell nicht unbedingt weitergekommen. Mit Sicherheit waren wir schon mal in einer toleranteren und aufbruchsfreudigeren Zeit. Das hat auch mit Bildung zu tun. Heute hat man Leute, die vor dem Abitur noch nicht richtig lesen und schreiben können. Was will man da an Aufbruch und geistiger Freiheit erwarten!
Die Ballade „Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort“ schrieben Sie nach der Thüringenwahl, bei der die AfD zur drittstärksten Kraft wurde. Ein AfD-Gutachten von 2017 attestiert Björn Höckes Haltung „eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“. Wie gefährlich sind Politiker, die Provokation zum Stilmittel erhoben haben?
Politiker, die die Wahrheit zersetzen durch giftige Pilzkulturen von Lüge, Verschleierung, Verfälschung und Hass sind die größte Gefahr für die Demokratie überhaupt. Sie machen das sehr raffiniert mit Hilfe der neuen Medien und Möglichkeiten. Die Menschen haben immer noch die komische Eigenschaft, dass sie gerne alles glauben, was sie schwarz auf weiß sehen. Meine Freunde, die wirklich Lehrer geworden sind, sagen, dass Schlimmste heutzutage sei nicht irgendeine Rebellion in der Schule, sondern der Umstand, dass die Schüler jeden Scheiß glauben. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, dass das interessenbehaftet sein könnte, was man ihnen da vorlegt. Es steht da und es ist wahr. Das ist eine weit verbreitete menschliche Schwäche. Schon mein Vater, der Gemeinschaftskundelehrer war, hat jede Zeile, die über mich geschrieben wurde, geglaubt.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie anders sind als der Durchschnitt?
Ich habe mich schon als Kind für Literatur und Musik interessiert. Mit drei, vier Jahren habe ich meinen Eltern angeblich im „Zaubermantel“ Geschichten erzählt. Später, als das Gymnasium noch etwas von einem verlangt hat, hatte ich mit 1,4 das beste Jahrgangsabitur am Stauffenberg-Gymnasium in Osnabrück. Ich war aber kein Streber, mir fiel das einfach zu. Mein Schicksal war, ewiger Klassensprecher zu sein. Die wildesten Jungs auf dem Schulhof haben meine Nähe gesucht, weil ich begriff, dass auch sie manchmal Recht hatten. Bei der Noten-Inflation von heute schaffen Leute ein Einser-Abi, die in Wahrheit eine 4 minus verdienen. Ich kann das beurteilen, ich habe Lehramt studiert. Das deutlichste Barometer des Zustandes einer Gesellschaft ist für mich die Quizshow an sich. In einer Sat.1-Show mit Matthias Opdenhövel wurde grundsätzlich jedem Tollplatsch so geholfen, dass er mit viel Geld nach Hause gehen konnte. Eine Erdkundelehrerin hat nach mehrmaligem Nachfragen seitens des Moderators darauf bestanden, dass Rostock im Erzgebirge liegt. Solche Leute sind berichtigt, unserem Nachwuchs Noten zu geben! Da möchte ich Amok laufen.
Heinz Rudolf Kunze auf Tour
Der Sänger geht auf „Der Wahrheit die Ehre Tour 2020“ und gastiert am 16. Mai um 19.30 Uhr im Serenadenhof in Nürnberg sowie am 19. Mai um 20 Uhr in der Stadthalle im Congress-Centrum in Suhl. Karten gibt es in unserem Ticketshop.