Daher muss sich kein Museumsbesucher wundern, wenn er die Treppe zum Eingang hinaufgeht und im Vorraum Menschen sieht, die etwas unkoordiniert mit ihren zwei Joysticks in die Luft greifen, sich drehen, bücken und wie kleine Kinder völlig aufgehen im Hier und Jetzt.
Hinter dem Erlebnis steckt Technik pur. Jede der 160 Figuren und Objekte haben Frank und ein Helferteam jeweils bis zu 1800 mal von allen Seiten fotografiert. Dadurch kann der Wanderer durch die Krippe jedes Schaf oder jeden Bauer betrachten, wie es bisher nie möglich war.
Gewiss, wer selbst eine Landschaftskrippe sein Eigen nennt, kennt die Figuren und betrachtet sie ebenfalls von allen Seiten. Aber eben nicht so wie in der virtuellen Realität. Sobald die Brille am Kopf sitzt, handelt es sich bei den Figuren nicht mehr um kleine, einige Zentimeter große Gebilde aus Ton. Jedes Risschen an einem Arm tritt nun riesig plastisch zutage und ist so groß wie der Besucher. Wer die Figur nimmt und umdreht – dies ist dank des Joysticks möglich –, kann auf der Unterseite die Inventarnummer erkennen.
Großbauern in der Zigarrenkiste
Im Gegensatz zum Betrachten einer normalen, hinterm Vitrinenglas aufgebauten Landschaftskrippe macht es eine diebische Freude, das eine oder andere Geheimnis aufzudecken. Warum nicht mal um das wuchtige oberbayerische Bauernhaus rumlaufen? Normalerweise ist nur dessen großbäuerlich anmutende Vorderseite zu sehen. Auf der Rückseite bietet sich ein völlig anderes Bild. Hier ist das Holz nicht gestrichen und daher noch etwas von „Zigarren“ zu lesen. Wer immer das Haus einst gebaut hat, der verwendete dafür eine alte Zigarrenkiste.
Und dann liegt es da, ganz klein und armselig: das Jesuskind in der Krippe. So Auge in Auge mit der Figur schlechthin, das hat was.
Taumelnde Besucher
Zurück in der Realität stehen Volker Dittmar und Stefan Frank vor dem riesigen Curved-Bildschirm und grinsen. Sie kennen den Wow-Effekt nur zu gut. „Leider konnten wegen Corona noch nicht so viele Besucher, wie wir es uns wünschen würden, die virtuelle Krippe besuchen. Aber diejenigen, die sich auf den Rundgang begeben haben, die waren begeistert“, sagt Frank. Wobei sich der Rundgang in der Realität auf vielleicht zwei, drei oder auch fünf Schritte beschränkt, die der Besucher unter den wachen Augen des Museumspersonals umhertaumelt.
Fans bis aus Berlin
Neulich hat sich eine Busladung mit Krippenfans aus Berlin im Museum auf die virtuelle Reise begeben – natürlich streng corona-konform in kleinen Grüppchen. „Wir hatten Besucher von fünf bis 78 Jahren“, sagt Volker Dittmar.
Da die Marktredwitzer Kultur der Landschaftskrippen seit Herbst im offiziellen Rang eines immateriellen Kulturerbes steht, ist Dittmars und Franks Mission für Marktredwitz noch wichtiger geworden – immerhin ist mit dem Titel auch die Verpflichtung verbunden, die Tradition lebendig zu erhalten.
„Wenn es wieder möglich ist, werde ich mit der virtuellen Krippe Schulen besuchen. Anfragen liegen bereits vor“, sagt Stefan Frank. Die oberbayerische Landschaft mitsamt Heiliger Familie lässt sich in drei Kisten verstauen und innerhalb von 15 Minuten aufbauen.
Als Volker Dittmar eine Schublade des Containers öffnet, auf dem der Riesenbildschirm thront, liegt in einer Wanne ein Klumpen feuchter Ton. „Das ist nicht irgendein Ton. Diesen haben wir im Keller des Damhafnerhauses gefunden, als wir vor dessen Abriss die letzten Originalstücke bargen. Die Familie Meyer mit dem Hausnamen Damhafner ist eine der bekanntesten Krippenfigurenbauer-Dynastien in Marktredwitz gewesen. Der letzte aus der Tonkünstler-Familie war Karl Meyer, der 1972 gestorben ist.
Das einzig erhaltene Stück Original-Ton und die virtuelle Krippe nur Zentimeter voneinander entfernt – das ist Museumspädagogik, wie sie sich Experten für die Zukunft wünschen. In Marktredwitz ist sie Realität.