7. Rituale stärken Traditionen
Jeder Versuch, ohne Traditionen – das heißt, ohne die Weitergabe von Handlungsmustern, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen – auszukommen und ständig Neues zu kreieren, ist zum Scheitern verurteilt. Vor allem in Zeiten sozialer Unsicherheit ist der Rückgriff auf Bekanntes und Bewährtes wichtig. „Rituelle Handlungen erzeugen einen Zusammenhang zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft, sie ermöglichen Kontinuität und Veränderung“, erklärt Wulf. Sie vermitteln Stabilität und Kontinuität über Zeiten und Augenblicke hinweg, vernetzen Generationen und weisen über sich selbst hinaus.
8. Rituale überhöhen den Alltag
Der Aspekt der Transzendenz, des Überschreitens ist wesentlich für Rituale. Das gilt nicht nur für religiöse Riten, die auf einen Gott oder eine Götterwelt hinweisen, sondern auch für humanistische und philosophische Ideen wie Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit oder Nation. Religion, so Michael von Brück, beschreibe mit ihren Symboliken und Ritualen das Ganze. Die menschlichen Handlungen und der Rhythmus des Lebens würden in einen universalen Sinnzusammenhang gerückt. Gottesdienste zum Beispiel stellen eine Verbindung her zwischen Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits, die sinnlich wahrnehmbar ist – in Gebeten, Gesängen, Klängen, Düften und vielerlei sakralen Handlungen.
9. Rituale markieren Übergänge
Ein Leben ohne Rituale ist schlicht unmöglich. Die Neigung zu rituellem Tun ist dem Menschen angeboren und quasi in seinen genetischen Code eingestanzt. Das beweist die Tatsache, dass zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften Rituale vorhanden waren. Es gehört zu den wichtigsten kulturgeschichtlichen Leistungen, dass einschneidende Übergänge im Leben des Menschen rituell abgesichert wurden – buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre. An bestimmten biografischen Wendepunkten markieren Übergangsrituale wie Taufe, Kommunion und Konfirmation, Jugendweihe und Hochzeit den Übergang in eine neue Lebensphase. Zugleich unterstreichen sie, dass nichts beliebig oder zufällig geschieht. So bekommt das Individuelle einen allumfassenden Sinn.
10. Rituale sind Wandlungsfähig
So vielfältig Rituale sind, so unterschiedlich werden sie wahrgenommen. Für die einen sind sie erhaben und feierlich, für die anderen hohl und überholt. Jugendlichen in der Pubertät ist die Lebensweise ihrer Eltern oft ein Graus. Deren Rituale erscheinen ihnen spießig und uncool. Doch das Aufbegehren gegen Autoritäten ist selbst wieder Ausdruck ritueller Handlungen, die sich in der Adoleszenz von Generation zu Generation auf je eigene Art wiederholen und entscheidend zur Reifung der Persönlichkeit beitragen.
Dass Rituale eine Zeit lang verbinden und dann infrage gestellt werden, hat damit zu tun, dass sie „keineswegs nur starr und sinnentleert sind, sondern lebendige Ereignisse darstellen, in denen sich eine Gemeinschaft immer wieder neu findet und an denen sie arbeitet“, erklärt der Heidelberger Indologe und Ritualforscher Axel Michaels. Manchmal muss man an Ritualen rütteln, um zu merken, dass es ohne sie nicht geht.