Eigener Inhalt Vom Wert der Dinge

Erben stellen sich häufig die Frage, was sie bloß anfangen sollen mit den Hinterlassenschaften des Verstorbenen. Sich vom Lieblingskleid der Mutter oder dem Lehnstuhl des Vaters zu trennen, fällt meist schwer. Wir verraten, was helfen kann und warum Großmutters gutes Geschirr doch in die Spülmaschine darf.

 
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Das Kaffeeservice mit Goldrand, das die Großmutter nur für besondere Anlässe hervorgeholt hat. Großvaters Sammlung von Schnitzmessern. Der dunkle Dielenschrank, der zwar hässlich, aber schon seit Generationen im Besitz der Familie ist: Erben müssen entscheiden, was damit passiert. Es ist eine Aufgabe, über die kaum jemand nachdenken, geschweige denn sich darauf vorberieten möchte: Das Haus oder die Wohnung der Eltern ausräumen. Was soll mit den Kleidern der Mutter passieren, an denen noch der vertraut-geliebte Geruch der Kindheit hängt? Behalten, wegwerfen, verkaufen, verschenken?

Vor dieser Aufgabe wird, früher oder später, fast jeder einmal stehen. Gerade wenn es gilt, eine Mietwohnung oder ein Zimmer im Seniorenheim zu leeren, kommt rasch die Zeitnot hinzu, zudem müssen alle Schritte mit den anderen Verwandten abgesprochen werden. Statt Zeit für die Trauer zu haben, steht dann eine logistische Meisterleistung an.

Im Mehrgenerationenhaus am Coburger Theaterplatz diskutiert eine Gruppe Senioren über das Thema Erbe. Ihre Nachnamen wollen sie nicht in der Zeitung lesen, geben aber ansonsten gerne Einblicke in ihr Seelenleben. "Wenn wir tot sind, kommt doch eh alles in die Mulde", meint Käthe trocken. "Wer will heute schon Kirschbaummöbel, groß und dunkel." Zur Konfirmation habe sie, geboren 1943, noch Tassen und Bettwäsche bekommen, heute habe daran keiner mehr Interesse.

Zuversichtlicher sieht es Helga. Ein alter Schrank aus dem Jahr 1780 sei von einem Antiquitätenhändler mal auf 8000 Euro geschätzt worden, erzählt sie. Aber wenn er nach ihrem Tod schnell verkauft werden soll, dann bekämen ihre Erben sicher nicht so viel dafür. Davon, jetzt schon auszusortieren, hält die 89-Jährige nicht viel. "Wo fängt man da an, das ist ja das ganze Leben." Erst vor wenigen Monaten hat sie sich von einem Schreiner ein Bett und eine Essgruppe fertigen lassen, aus geöltem Holz. "Das werden mal die Enkel bekommen", ist Helga sicher.

Hannelore hingegen hat schon jetzt damit angefangen, besondere Dinge aus ihrem Leben gezielt weiterzugeben. Ihrer Tochter hat sie ein Service von Rosenthal mitgegeben. "Ich habe ihr gesagt: Steck es ruhig in die Spülmaschine, wenn es hin ist, ist es eben hin." Schließlich bringe es nichts, das gute alte Geschirr im Schrank stehen zu lassen, nur weil der edle Goldrand nicht spülmaschinenfest ist. "Junge Leute haben keine Zeit mehr, es gibt Coffee to go statt eines schön gedeckten Tisches", meint sie. Auch einige alte Möbel, die Hannelore selbst einmal von ihrem Großvater geerbt hat, hat die Tochter schon mitgenommen.

Praktisch angegangen ist auch Herbert das Thema Erbe. Als seine Frau vor einiger Zeit starb, legte er alle ihre Dinge auf den Tisch. "Die Enkel und Kinder kamen und haben alles mitgenommen, was sie haben wollten, Schmuck und Tücher", schildert der 81-jährige Wittwer. Er überlegt gerade, in welchem Seniorenheim er sich anmeldet. Vorsichtshalber, um für den Fall der Fälle vorgesorgt zu haben. All die Dinge, die er jetzt in seinen vier Wänden hat, wird er dorthin nicht mitnehmen können.

Sebastian Wagner, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Coach mit Praxen in Bamberg und Kronach, rät Senioren dazu, frühzeitig ihren Nachlass zu regeln. "Sie sollten sich nicht an das Motto ‚nach mir die Sintflut‘ halten, sondern auch an die Angehörigen denken, die dann hinterher eine Menge an Arbeit und psychischer Belastung mit den Hinterlassenschaften haben", gibt er zu bedenken.

Wenn erwachsene Kinder vor der Aufgabe stehen, das Haus der verstorbenen Eltern leerzuräumen, können ganz widersprüchliche Gefühle zum Vorschein kommen.

"Im Einzelfall kann es extreme Scham und Schuldgefühle bei den erwachsenen Kindern auslösen, da diese ja damit konfrontiert werden, auch die letzten Zeugnisse des Lebens ihrer Eltern zu beseitigen", ist seine Beobachtung. In jedem Fall aber sei es schwierig für die Angehörigen, diese Aufgabe zu erfüllen, weil man ja auch unweigerlich mit dem Thema Tod und Sterben in Berührung komme. "Ein Thema, das wir alle gerne vermeiden." Beim Ausräumen wird man mit der Nicht-mehr-Existenz der verstorbenen Eltern erneut konfrontiert, alte Beziehungskonflikte und Erfahrungen, die in der Psyche noch mit der Person verbunden
seien, könnten aufblitzen und belasten.

Helfen könne in solch einer schwierigen Situation ein Freund oder eine Freundin, die mitkommt und beim Ausräumen hilft. Oder andere Angehörige. Wichtig sei, so Wagner, dass Betroffene sich rechtzeitig psychologische Hilfe holen, wenn sie extreme Trauerreaktionen erleben.

Doch wohin dann mit all den geerbten Sachen? Wohin mit den kleinen Dingen des Alltags, mit Nähkästchen und Besteck, mit Krawatten, Blusen und Künstlerpuppen-Sammlung? Sie müssen nicht sämtlich im Müll landen (siehe "Alternativen zum Sperrmüll"). Bevor es aber ans Wegschaffen geht, gilt es erst einmal, loszulassen, sich von den Dingen des Verstorbenen zu trennen. Und das kann ziemlich schwer fallen. Warum – dafür gibt es verschiedene psychologische Erklärungen.

Da sind die nicht zu unterschätzenden angenehmen Erinnerungen. Die Person ist zwar verstorben, aber ihre Hinterlassenschaften überdauern den Tod. "Die Gegenstände werden zu Symbolen, die für die Verstorbenen stehen", fasst Sebastian Wagner zusammen. So bekommt besagtes Nähkästchen die Aufgabe, die alte Bindung aufrecht zu erhalten. Umso mehr, wenn Menschen schwierige Erfahrungen mit der verstorbenen Person gemacht haben. Dann kann ein Erbstück das einzig Positive sein, was bleibt. Etwas, an dem man sich festklammern kann, während da das Gefühl ist, als Kind zu wenig Bestätigung erhalten zu haben.

"Ich habe einmal eine ältere Frau kennengelernt, deren Vater kurz zuvor verstorben war. Sie lud mich und meine Frau in das Haus mit den vielen Sachen ihres Vaters ein, und wollte, dass wir irgendwas davon mitnehmen, Bücher, Regenschirme und so etwas. Ein paar Tage später stand sie dann vor unserer Tür und bat uns, ihr die Sachen doch wieder zurückzugeben, weil sie so sehr daran hänge", erinnert sich Sebastian Wagner. Und das, obwohl die Frau die Bücher nie gelesen hatte und so viele Regenschirme niemals in ihrem Leben würde benutzen können. "Aber sie konnte ihren Vater innerlich einfach nicht loslassen, ihn nicht gehen lassen, und hielt sich krampfhaft an jedem Erinnerungsstück fest, egal wie unbedeutend es eigentlich war."

Auch unverarbeitete Trauer erschwert es Menschen, sich von Dingen des Verstorbenen zu trennen. Besonders dann, wenn der Tod plötzlich oder unter besonderen Umständen eingetreten ist. So ein besonderer Umstand kann ein großes Unglück wie ein Flugzeugabsturz sein. Ebenso das Miterleben des Todes, etwa bei einem Unfall. Häufig liegen dann psychische Traumen vor – die Hinterbliebenen haben sich hilflos oder gar ohnmächtig gefühlt beim Tod der Person. Solche Trauerprozesse dauern oft viele Monate, manchmal sogar Jahre, so die Erfahrung des Psychologen. "Sie sind zum Teil auch von vielen Schuldgefühlen begleitet, und es kann eben auch dazu kommen, dass solche trauernden Angehörigen es nicht schaffen, sich in angemessener Weise von geerbten Dingen zu trennen, selbst wenn sie sie nicht wirklich brauchen", erklärt Sebastian Wagner.

Problematisch wird es auch, wenn mit Erbstücken umzugehen ist, die seit Generationen in der Familie weitergegeben werden. Zwar potthässlich, aber eben vom Ururgroßvater. Schnell wird ein solches Erbe zur Last. "Familienmitglieder fühlen sich möglicherweise verpflichtet, die Regel des Bewahrens beizubehalten, weil es immer schon so war." Um sich anders entscheiden zu können, müssten ihnen die unbewussten Mechanismen hinter diesen Familienregeln erst einmal klar werden, weiß Sebastian Wagner.

Neben Erinnerungen, unverarbeiteter Trauer oder einem Gefühl der Verpflichtung können natürlich auch Geiz oder ein Aufbegehren gegen die Wegwerfgesellschaft Gründe sein, alles Geerbte aufzuheben. Seinen Patienten rät der Psychologe dennoch meist dazu, keine Schreine für Verstorbene zu erstellen. Wenn man immer wieder an die Person erinnert wird, fällt es schwer, mit der gesunden Trauerarbeit voranzukommen.

Senioren können ihren Angehörigen die Last des Erbes erleichtern, indem sie selbst in Ruhe ihren Hausstand von Ballast befreien. Was mit den übrigen Dingen oder besonderen Stücken passieren soll, lässt sich über ein Testament regeln. So haben die Angehörigen Zeit für das, was wirklich wichtig ist nach einem Todesfall: Sich auf ihre Trauer einzulassen, ohne sich den Kopf zerbrechen zu müssen, was mit Schnitzmessersammlung, Dielenschrank und Kaffeeservice mit Goldrand passieren soll.

Buchtipps
? Lydia Flem: "Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte", erschienen 2004 in deutscher Übersetzung im Verlag Schirmer Graf, München, 119 Seiten, gebunden, 16,80 Euro.
Auf humorvolle und sehr persönliche Weise schreibt die Autorin über ein Thema, das niemand gern erwähnt. Nach dem Tod ihrer Mutter muss sie das Haus ihrer Eltern leerräumen und beschreibt dabei ihre gemischten Gefühle der Trauer und des Schuldbewusstseins, des Grolls und der Erleichterung.
? Christina Erdkönig, Emir Ben Naoua:
"Loslassen und Leben aufräumen. Was mit uns geschieht, wenn wir die Wohnung unserer Eltern auflösen", erschienen 2014 als E-Book im Herder Verlag Freiburg, 160 Seiten,
11,99 Euro.
Das Autorenduo gibt Begleitung und Hilfestellung für Erwachsene beim schwierigen Prozess des Loslassens. Die Erzählungen der Frauen und Männer, die von Christina Edkönig für das Buch befragt wurden, zeigen, wie vielseitig das Geschehen sein kann. Der Psychologe Emir Ben Naoua erläutert, wie Betroffene mit den oft verwirrenden Gefühlen umgehen können.
Alternativen zum Sperrmüll
? Das Umsonstregal. In vielen Städten gibt es an unterschiedlichen, öffentlich zugänglichen Orten sogenannte Umsonstregale. Jeder kann etwas hineinstellen und jeder darf sich kostenlos etwas daraus mitnehmen.
? Die sozialen Netzwerke. Im Internet, etwa bei Facebook, gibt es eine Vielzahl von Gruppen, in denen die Mitglieder Dinge verschenken. Sie beschränken sich auf einen lokalen Umkreis, sodass die Sachen unkompliziert abgeholt werden können.
? Die Sozialen Dienste. Diese Einrichtungen holen ohne Bezahlung noch brauchbare Dinge ab, etwa Möbel oder Küchengeräte. Sie bereiten die Sachen wieder auf und verkaufen sie dann günstig in Gebrauchtwarenkaufhäusern.
? Die Gebrauchtwarenkaufhäuser. Projekte wie "Harz und Herzlich" in Coburg bieten gute gebrauchte Alltagsgegenstände und Kleidung für kleines Geld an. An bestimmten Anliefertagen können kostenlos Sachen abgegeben werden.

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