Eigener Inhalt Erlkönigs Leid

Wolfgang Plank

Nicht mal mehr 400 Meter sollen es sein bis zum Ziel. Sagt das Navi. Zu sehen ist - nichts. Jede Hinterhofwerkstatt ist besser ausgeschildert. Dann tatsächlich: Von Kattenbos aus zeigt ein kleiner Pfeil in einen schmalen Waldweg: Oude Diestersebaan. Am Ende ein hoher Zaun, Kameras, Schranke, Pförtner. Zutritt nur nach Anmeldung und in Begleitung.

 
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Man hat es nicht so mit Besuch hier. Zu viel könnte gesehen werden, was man nicht zeigen möchte. Deswegen ja der Wald, die Gitter, die Wachen. Streng Geheimes rollt durch die Gegend. Nicht bestimmt für die Augen der Konkurrenz. Ford-Prototypen auf Erprobung. Das, was noch nicht mal in Prospekten zu sehen ist und schon gar nicht in Schaufenstern. Die Autos von morgen – hier fahren sie heute schon.

Hier heißt offiziell "Ford Proving Ground". Im dichten Wald südlich der belgischen Kleinstadt Lommel unterhält der Autobauer 320 Hektar mit 18 Teststrecken. Eine von weltweit sieben Anlagen des Konzerns. Die einzige in Europa. Es begann 1965 mit 25 Kilometern Straßen samt Highspeed-Oval. Heute durchschlängelt mehr als das Vierfache das Gelände. 24 Stunden am Tag drehen Testfahrzeuge ihre Runden, sieben Tage die Woche. Alles in allem um die acht Millionen Kilometer im Jahr.

Wer hier nach dem rechten Pfad sucht, kann eine Karte benutzen, womöglich auch sein Navi. Besser wäre es, er würde Valère Swinnen fragen oder Johan Craeghs. Der eine ist Chef von "Ford Proving Ground", der andere seit 33 Jahren Fahr-Instruktor. Beide kennen hier jeden Stein.

Es gibt viele Steine in Lommel. Und noch mehr Löcher. Hier gerät an Grenzen, was Ingenieure ertüftelt, Designer geformt und Techniker gebaut haben. Mehr als bloß eine Tortur. Vorsätzlicher Materialmord. Die Tatorte sind Rüttelstrecken, Buckelpisten, Schotter. Rund 60 000 Test-Kilometer spult ein Prototyp in fünf Monaten ab. Hochgerechnet weit mehr als ein Autoleben. Die ersten 5000 geht es ausschließlich über übelstes Geläuf: Katzenkopfpflaster, Schlaglöcher, Frostaufbrüche. Immer und immer wieder. Dazu Bahnübergänge, Betonrippen, Bordsteine. Auch bei hohem Tempo. Und regelmäßig salziger Sprühregen. Härter kann es ein Auto nicht treffen.

Dabei ist die Brutalität fast liebevoll in Szene gesetzt. Detailgetreu finden sich in schmucker Landschaft Beläge aus aller Welt. Am Rand stehen Namen wie "Lower Dunton Road", "Route Dauphine" oder der legendäre "Postelweg". Das Original ist keine zehn Kilometer entfernt: grobes Pflaster, billig asphaltiert und dann dem Verfall preisgegeben. Straße ist eigentlich schon ein Kompliment.

Ihre Opfer werden hintennach obduziert. Spezialisten prüfen jeden Schweißpunkt, vermessen Bauteile, fahnden nach Haarrissen. Weil das Auto dazu komplett zerlegt wird, steht der brutale Teil am Anfang. Doch viel angenehmer wird es auch später nicht. Jeder Wagen muss sich auch bei Seitenwind beweisen, im Schlamm oder am Berg.

Um die 200 Testfahrer spulen festgelegte Programme ab. Leer, beladen, mit Dachträger oder Anhänger. In streng vorgeschriebenem Tempo. Und 60 heißt da 60. Nicht 61 und auch nicht 59. Schließlich müssen Messwerte hintennach vergleichbar sein. Auf "Gleneagles" etwa spüren sie Schwingungen nach, Resonanzen und Rollgeräuschen. Nicht auszudenken, wenn später bei jeder Beton-Fuge das Armaturenbrett knarzen würde.

Manchmal aber geht es auch nach Empfinden. Wie stark nimmt man Lenkkräfte wahr? Wie wohl fühlt man sich auf welliger Straße zwischen engen Leitplanken? Vermittelt das Fahrwerk Sicherheit? Und behagt einem die Neigung der Kopfstütze?

Nicht jeder Testfahrer darf alles. Es gibt eine Art Stufenführerschein. Und ständige Weiterbildung samt Prüfung. Für Tempo-Fahrten im überhöhten Oval muss man "Level 2" haben, für Ausflüge in den Grenzbereich "Level 3". Damit darf man es auf "Strecke 7" auch mal richtig fliegen lassen. Ein wunderschön geschwungener Handling-Kurs mit zwei kniffligen Kuppen. Zum Niederknien für jeden, der gerne Auto fährt. Ingenieure für Fahrdynamik und Instruktoren haben "Level 4". Die höchsten Weihen.

Auch wenn Könner am Werk sind – Sicherheit hat oberste Priorität. "Der beste Schutz", sagt Swinnen, "ist Fläche." Wo die allein nicht hilft, werden vor Schleuder-Tests schon mal große Stützräder montiert. Er tauscht sich ebenso mit Kollegen anderer Herstellern aus wie Craeghs. Beide haben Mitbewerber zu Gast, kennen die Areale der Konkurrenz. Von Volvo zum Beispiel haben sie sich Leitplanken aus Stahlseilen abgeschaut. Man mag unterschiedliche Autos bauen, ein gemeinsames Ziel aber haben sie alle.

Geheimnisumwittert bleibt es gleichwohl. Erst wenn sich die Schranke hinter einem schließt, rollen die Erlkönige wieder aus der Garage.

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