Eigener Inhalt Von wegen Luft raus…

Wolfgang Plank

Zwischen Weinbergen und Panzerplatte erlebt Weltmeister Sébastien Ogier, warum eine Rallye bis zuletzt spannend ist.

 
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Der Rallyesport ist voll von Weisheiten. Da gibt es kluge, nicht ganz so kluge – und zwei sehr alte, die gleichsam den Status eines Naturgesetzes genießen. Dass nämlich erst im Ziel sein muss, wer Erster im Ziel sein will. Und dass ganz zum Schluss abgerechnet wird.

Gelegentlich gerät derlei ein wenig in Vergessenheit. Weil in der Weltmeisterschaft jedes Ergebnis zählt, werden auch kleine Vorsprünge gerne mal verwaltet. Siegen mag schön sein, Punkten aber ist ungleich wichtiger. Die Saison ist schließlich lang. Und hart ist sie auch.

Sébastien Ogier ist üblicherweise ein guter Verwalter. Für die Spitze reicht es, knapp schneller zu fahren als die Konkurrenz. Aber wenn es sein muss, kann Ogier eben auch Fabelzeiten. Fünfmal in Folge ist der Franzose mit diesem Rezept Weltmeister geworden, vier Siege holte er im VW Polo, den jüngsten im Ford Fiesta.

In dieser Saison jedoch wankt der König. Erst drei Läufe hat er bislang gewinnen können, Thierry Neuville (Hyundai) liegt mit ebenfalls drei Siegen in der Gesamtwertung vor ihm, Ott Tänak (Toyota) drängt von hinten. Trotzdem ist Ogier derjenige, den es zu schlagen gilt. Auch bei der ADAC Rallye Deutschland. Drei Tage und 330 Kilometer Zeit für Attacke – aber beim kleinsten Fehler ist man eben auch raus. Im Rallyesport gibt es keine Kiesbetten, keine Auslaufzonen und kein Safety-Car.

Am Bostalsee haben die Werks-Teams ihre kleine Welt aufgebaut. Drei Wochen zuvor war alles noch in Finnland. Jeder Tisch, jeder Wagenheber, jedes Ersatzteil. Mitte September wird alles schon wieder im türkischen Marmaris stehen. Jetzt aber ist der Zirkus und um St. Wendel. Und was Rang und Namen hat, ist da: Ford M-Sport, Hyundai, Toyota, Citroen, Skoda, Opel. Eine kleine Stadt aus großen Zelten. Sehr großen Zelten.

Morgens über dem Moseltal. In dem Idyll aus Trauben und Terrassen reift friedlich der Jahrgang 2019. Man sollte ortskundig sein oder gute Karten haben, ein Abzweig im steilen Labyrinth sieht aus wie der andere. Es gibt weder Baum noch Strauch, nur Stein und Wein.

Und Fans zu Abertausenden. Sehr früh schon sind sie heraufgepilgert. Sie bevölkern die freien Fleckchen, harren aus zwischen den Beeren. Im Gepäck: Fahnen, Getränke, Klappstühle und Sonnencreme. Hauptsache zeitig da sein. Nur ein früher Platz ist ein guter Platz. Von dort hat man beste Sicht auf die Arbeiter im Weinberg und ihre Gefährte.

Ogiers Fiesta ist die kunstvolle Summe dessen, was das WRC-Reglement hergibt. Offizielle 380 PS aus einem 1,6-Liter-Turbomotor, Allradantrieb, sequenzielles Getriebe. Heißt übersetzt: Vortrieb, als habe jemand an einem Katapult den Auslöser gedrückt. Alles dient nur einem Zweck: der schnellstmöglichen Fortbewegung.

Gehalten von Sechspunkt-Gurten sitzen Fahrer und Copilot tief in einer engen Carbonschale. Umgeben von 40 Metern kunstvoll verschweißtem Stahlrohr. Das Einsteigen ist was für Turner, Unterhalten kann man sich nur per Sprechanlage und enge Kurven gehen nur per Handbremse. Wer bloß einen Hauch von Komfort sucht, ist hier schon falsch.

Die Raserei im Riesling läuft für Ogier nach Plan. Finnland-Sieger Tänak gast vorneweg, der Franzose nur 12,3 Sekunden dahinter. Der zweite Tag auf der "Panzerplatte" dürfte seiner sein, vermuten alle. Ein Marathon im Militärgelände von Baumholder. Fast 100 Kilometer über rauen Beton und welliges Pflaster. Die Strecke gesäumt von Steinen, die für gewöhnlich Panzer auf dem rechten Weg halten. Die dort schon geschrotteten Rallye-Träume zählen nach Hunderten.

Wo sonst Krieg geprobt wird, gibt es auch heuer wieder Verluste. Es trifft – Ogier. Ein Reifenschaden kostet ihn fast zwei Minuten. Im Servicepark hätten ihm seine Mechaniker in weniger als einer Viertelstunde das Differenzial wechseln können oder vier Federbeine. Bei einem Plattfuß aber muss sich auch ein fünfmaliger Weltmeister selbst helfen. Der WM-Traum scheint erst einmal geplatzt.

Zumal am Sonntag nur mehr drei Prüfungen warten. Ideal zum Verwalten. Eigentlich. Doch dann kommt alles ganz anders. Dani Sordo (Hyundai) wirft seinen zweiten Platz in die Rebstöcke, Mads Östberg (Citroën) trifft einen Baum, und am Toyota von Jari-Matti Latvala streikt das Getriebe. Ogier macht Druck, wird am Ende Vierter und holt sich auf der letzten Prüfung noch fünf Zusatzpunkte für die Powerstage-Bestzeit. Mit einem Zehntel Vorsprung. Genau das macht seine Klasse aus.

Von wegen also Luft raus. Der wankende König kann fast zufrieden sein. Neuville nicht enteilt, Tänak noch auf Abstand, und bei noch vier Rallyes weiterhin beste Chancen auf den sechsten Titel. Abgerechnet wird schließlich erst zum Schluss…

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