Eigener Inhalt Ach Mensch, Luther!

Das Jubeljahr geht zu Ende. Hunderttausende besuchten in den vergangenen Monaten Wittenberg. Doch der wichtigste Tag kommt erst noch: Am 31. Oktober 1517 begann mit Luthers Thesenanschlag die Reformation. Genau 500 Jahre später feiert die Stadt ein großes Reformationsfest. Und dann?

 
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Noch acht Tage. "Luther!" – in Pink und Blau und Gelb schimmert der Reformator als stilisierte Silhouette mit einem imperativen Ausrufezeichen hinter seinem Namen überall in der Stadt von den Werbeplakaten. Auch am Augusteum, vor dem die Reisebusse zum Aussteigen halten, heißt es "Luther!" Und ein großer, pinker Pfeil weist den Weg zum Reformator.

"95 Thesen, 95 Menschen" – das war eine ziemlich coole Idee für eine große Ausstellung in Wittenberg über den berühmten Dr. Matin Luther. Im ehemaligen Schwarzen Kloster, dem heutigen Lutherhaus gleich neben dem Augusteum, kommt er 1507 von Erfurt aus an. Der damals noch unbekannte Augustinermönch erhält eine Zelle und eine Aufgabe: Er soll den gerade gegründeten Augustiner-Konvent verstärken. Und nicht nur das: Luther promoviert und übernimmt 1512 an der Wittenberger Universität die Professur für Bibelübersetzung. Keine zwölf Jahre später schenkt Kurfürst Friedrich dem im ganzen Land bekannten und in Rom gehassten Augustiner-Mönch das gesamte, seit dem Durchbruch der Reformation verwaiste Kloster. Luther und seine Frau Katherina räumen auf. Und also residiert der Reformator fortan in Wittenberg, umgeben von Studenten.

Es ist dies die Geschichte, die im Lutherhaus neben einigen Legenden auch erzählt wird. Original ist hier fast nichts mehr. Der Palast des Reformators lebt von der Imagination des historischen Ortes. Im Hof davor, mit dem schönen Wendelstein, tummeln sich die Touristen. Ein Café mit Terrassen-Plätzen, breite Bänke, Weltkulturerbe. Im Viertelstundentakt strömen die Besuchergruppen durch das Eingangsportal. So, wie sie die Touristenbusse ausspucken. Einer der pinkfarbenen Pfeile fängt sie noch bis zum 5. November auf ihrem Weg zu Luthers Wohnhaus ab: Nach links, in die "Nationale Sonderausstellung", weist er die Richtung. In drei Etagen des Augusteums, das einst zur Wittenberger Universität gehörte, versuchen die Macher den Brückenschlag: 95 Menschen – von Sophie Scholl bis Edward Snowden – stehen mit ihren Biografien dafür, wie Luthers 95 Thesen – im Lauf der Jahrhunderte vielfach gespiegelt und gebrochen – ihren Weg in unsere Zeit fanden.

Wer eine Chronologie der Reformation erwartet hat, wird enttäuscht. Überall Menschen, deren Gedanken und Handeln beeinflusst wurden vom Geist der Reformation. Wittenberg fragt, wie es heute weiter geht mit diesem großen, protestantischen Projekt. Und diese Frage ist nicht ganz unwichtig für das Selbstverständnis einer Stadt, in der einst am großen Rad der Weltgeschichte gedreht wurde. Laut zu hören ist die Frage "Wie weiter?" in den wunderschön restaurierten Gassen und Straßen noch nicht. Die Stadt ist noch im Jubeljahrmodus. Noch strömen die Touristen. Und der wichtigste Tag kommt erst noch: Am 31. Oktober 1517 soll Martin Luther den Hammer geschwungen haben. Legende, soweit man weiß. Doch die Macht der Geschichte fasziniert: Auf den Tag genau vor einem halben Jahrtausend! Was für ein Moment! Sage niemand, der moderne Mensch sei nicht empfänglich für monumentale Dimensionen. Am kommenden Dienstag will Wittenberg feiern – mit zahllosen Gottesdiensten.

Bis dahin sind Schlossstraße und Collegienstraße die Flaniermeilen der Stadt. Am östlichen Ende das Lutherhaus, am westlichen das ehemalige Residenzschloss. Im Siebenjährigen Krieg und in den Napoleonischen Befreiungskriegen zusammengeschossen, wurden die Reste in den vergangenen Jahren komplett saniert. Wer vom Westen her die Stadt erobert, startet hier, am Schlossplatz, an der Schlosskirche, an der (nicht mehr originalen) "Thesentür", die ein schmiedeeiserner Zaun schützt. Davor lässt sich gerne fotografieren, wer einen weiteren Anreiseweg hatte. Touristen aus Übersee finden den Ort "so amazing". Und drinnen, in der Schlosskirche, bleibt kaum Zeit, der Gedanken und Eindrücke Herr zu werden.

Aber das geht etliche Treppenwindungen weiter oben: Für drei Euro kann man sich durch die engen Steinwindungen des Schlosskirchenturmes über die Dächer der Stadt erheben: Der Turm ist ein architektonisches Unikum, und der Blick zur Elbe und über die Altstadt einfach atemberaubend. Hier oben ist der richtige Moment, die Zeichen der Neuzeit auszublenden, den heute prächtigen Stadtkern gedanklich zusammenzuknüllen zum Nest an der Elbe des Jahres 1517. Ein paar Kirchen, ein paar Häuser, der Fluss, Sumpf, Wälder, Felder. Noch ist das neue Schloss nicht fertig, residiert der Kurfürst in Torgau elbaufwärts. Hier soll einst Rom herausgefordert worden sein?

Nun, es ist wohl so, und unten auf der Collegienstraße finden sich die Devotionalien: Luthertassen, Luther-Shirts, Luther-Wein, Luther-Kekse, Luther-Socken, Luther-Taschen, Luther-Kerzen, Luther-Schnaps, Luther-Pralinen, Luther-Bier, Luther-Spiel, Luther-Armband, Luther-Seife, Luther-Uhr und Luther-Quietsche-Ente. Torte und Braten nach Art des Reformators nicht zu vergessen. Kein Schaufenster ohne das Konterfei des Reformators – die ganze Stadt "luthert" – geschäftstüchtig und irgendwie ziemlich gelassen. Auch wenn sie mit ihren Fahrrädern bremsen, kurven und bimmeln müssen, um im Heer der Neugierigen einigermaßen voranzukommen. Kunst und Kitsch, Geschichte und Legenden – in Wittenberg passt dieser Tage vieles zusammen.

Natürlich: Hier lebt man mit Luther seit 500 Jahren, das Ausrufezeichen macht ihn für die Wittenberger nicht allgegenwärtiger. Sondern die Touristen sind es, derentwegen die Stadt Hunderte Veranstaltungen organisiert hat, die große Ausstellung aufgebaut wurde, das Schloss saniert und manches andere Gebäude auch, und derentwegen Yadegar Asisi sein Millionen Euro teures Rundbild aufbaute – in einem eigenen Kubus. Immerhin das wird stehen bleiben, über den 31. Oktober hinaus.

Ein großes Reformationsfest wollen sie feiern. Gottesdienst über Gottesdienst – der erste um halb acht in der Frühe, und zum Abschluss "luthERleuchtet" auf dem Schlossplatz. Dort, wo alles begann mit den legendären Hammerschlägen, soll mit Licht erinnert werden. Zwischendrin wird auch Friedrich Schorlemmer predigen und reden – der Mann, der 14 Jahre lang Pfarrer an der Schlosskirche war. "Ach Mensch, Luther – die Reformation geht doch weiter!" hat er einen Text genannt. Er soll Hoffnung machen, für die Zeit danach. Denn Wittenberg muss sich nach einer Dekade des Entgegen-Fieberns entwöhnen vom Luther-Trubel.

Und ja, es gibt sie doch, die Zeichen dafür, dass es weitergeht mit Luthers Thesen und Gedanken. Eine Gruppe Amerikaner stellt sich spontan vor das Lutherhaus, da neigt sich der Tag schon seinem Ende entgegen. Junge Männer, junge Frauen, ein paar Kinder. Gitarren werden ausgepackt, jemand zückt die Videokamera. Sie singen ein Lied auf Englisch, ein Kirchenlied. Deswegen sind sie hier.

Die Reformation, Mensch Luther, geht weiter!

HINWEISE FÜR IHRE REISE
? Alle Veranstaltungen und Hinweise für Übernachtungsmöglichkeiten: www.wittenberg.de
? Alle Infos zum Reformationsjubiläum: www.r2017.org
? Asisi-Panometer: www.wittenberg360.de
? Stiftung Luthergedenkstätten in Wittenberg und Sachsen-Anhalt: www.martinluther.de


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