Aber das geht etliche Treppenwindungen weiter oben: Für drei Euro kann man sich durch die engen Steinwindungen des Schlosskirchenturmes über die Dächer der Stadt erheben: Der Turm ist ein architektonisches Unikum, und der Blick zur Elbe und über die Altstadt einfach atemberaubend. Hier oben ist der richtige Moment, die Zeichen der Neuzeit auszublenden, den heute prächtigen Stadtkern gedanklich zusammenzuknüllen zum Nest an der Elbe des Jahres 1517. Ein paar Kirchen, ein paar Häuser, der Fluss, Sumpf, Wälder, Felder. Noch ist das neue Schloss nicht fertig, residiert der Kurfürst in Torgau elbaufwärts. Hier soll einst Rom herausgefordert worden sein?
Nun, es ist wohl so, und unten auf der Collegienstraße finden sich die Devotionalien: Luthertassen, Luther-Shirts, Luther-Wein, Luther-Kekse, Luther-Socken, Luther-Taschen, Luther-Kerzen, Luther-Schnaps, Luther-Pralinen, Luther-Bier, Luther-Spiel, Luther-Armband, Luther-Seife, Luther-Uhr und Luther-Quietsche-Ente. Torte und Braten nach Art des Reformators nicht zu vergessen. Kein Schaufenster ohne das Konterfei des Reformators – die ganze Stadt "luthert" – geschäftstüchtig und irgendwie ziemlich gelassen. Auch wenn sie mit ihren Fahrrädern bremsen, kurven und bimmeln müssen, um im Heer der Neugierigen einigermaßen voranzukommen. Kunst und Kitsch, Geschichte und Legenden – in Wittenberg passt dieser Tage vieles zusammen.
Natürlich: Hier lebt man mit Luther seit 500 Jahren, das Ausrufezeichen macht ihn für die Wittenberger nicht allgegenwärtiger. Sondern die Touristen sind es, derentwegen die Stadt Hunderte Veranstaltungen organisiert hat, die große Ausstellung aufgebaut wurde, das Schloss saniert und manches andere Gebäude auch, und derentwegen Yadegar Asisi sein Millionen Euro teures Rundbild aufbaute – in einem eigenen Kubus. Immerhin das wird stehen bleiben, über den 31. Oktober hinaus.
Ein großes Reformationsfest wollen sie feiern. Gottesdienst über Gottesdienst – der erste um halb acht in der Frühe, und zum Abschluss "luthERleuchtet" auf dem Schlossplatz. Dort, wo alles begann mit den legendären Hammerschlägen, soll mit Licht erinnert werden. Zwischendrin wird auch Friedrich Schorlemmer predigen und reden – der Mann, der 14 Jahre lang Pfarrer an der Schlosskirche war. "Ach Mensch, Luther – die Reformation geht doch weiter!" hat er einen Text genannt. Er soll Hoffnung machen, für die Zeit danach. Denn Wittenberg muss sich nach einer Dekade des Entgegen-Fieberns entwöhnen vom Luther-Trubel.
Und ja, es gibt sie doch, die Zeichen dafür, dass es weitergeht mit Luthers Thesen und Gedanken. Eine Gruppe Amerikaner stellt sich spontan vor das Lutherhaus, da neigt sich der Tag schon seinem Ende entgegen. Junge Männer, junge Frauen, ein paar Kinder. Gitarren werden ausgepackt, jemand zückt die Videokamera. Sie singen ein Lied auf Englisch, ein Kirchenlied. Deswegen sind sie hier.
Die Reformation, Mensch Luther, geht weiter!