Veranstaltungstipps Achim Reichel: "Ich hatte unglaublich viel Glück im Leben"

Das Gespräch führte Olaf Neumann
 Foto: Hinrich Franck und Matti Klatt

Achim Reichel gilt als der Ur-Vater der deutschen Rockmusik. Anlässlich seines 75. Geburtstags ist das Album „Das Beste“ erschienen. Er feiert sein Jubiläum mit einer Tour.

 
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Herr Reichel, zu Ihrem umfangreichen musikalischen Werk gehören Beatmusik, Krautrock, verrockte Seemannslieder, Blues, deutsche Lyrik und Prosa, altgermanische Balladen und Volkslieder. Werden all diese Stile bei Ihrer Tour zu Gehör kommen?
Die Tour wird im Wesentlichen eine eingeschränkte Werkschau. Ich habe verschiedene Phasen erlebt und auch zugelassen. Ich sah irgendwann interessantere Aufgaben, als immer nur Rattles-Musik zu machen. Das Zeug von AR & Machines zum Beispiel lässt sich schwer damit vermischen. Vor zwei Jahren habe ich die Zehn-CD-Box „The Art of German Psychedelic“ herausgebracht, die sich sinnigerweise in Amerika besser verkauft hat als in Europa. Das geht mir runter wie Öl! Aber nach meinem Konzert in der Elbphilharmonie vor zwei Jahren gab es Beschwerden, dass ich gar nicht gesungen habe. Deswegen schwenke ich jetzt wieder zurück zu den Songs. Es kann sein, dass ich auf der Tour mal einen Titel wie „Moscow“ oder „Come On And Sing“ einbaue, aber selbst bei meiner Solokarriere bin ich ganz verschiedene Wege gegangen.

Mit „Dat Shanty Alb’m" legten Sie einst einen verblüffenden Stilwechsel von experimentellem Krautrock hin zu plattdeutschen Shantys hin. Wie kam es dazu?
Das Shanty-Album ist 1975 erschienen und jetzt bin ich 75 geworden! Zwischendurch habe ich mich gefragt, ob ich für den Rest meines Lebens Shantys singen oder mit jungen Lyrikern arbeiten will. Wenn man ein paar Single-Hits mit eigenen Texten landen konnte, verlangen Plattenfirmen immer nach mehr davon. So bin ich nicht gebaut! Ich finde es unspannend, wenn etwas zur Routine wird. Das Schöne ist, dass ich eine ganze Menge Sachen wie Shantys, alte Balladen oder Volkslieder für mich gefunden habe. Ich habe es lange als Aufgabe für mich begriffen, die Gegenwart mit unseren kulturellen Wurzeln zu verbinden. Bei der Musikmacherei geht es für mich nicht nur ums Geldverdienen, das wäre mir zu schnöde.

Wie fühlen Sie sich mit 75?
Es gab Zeiten, da habe ich es nicht für möglich gehalten, dass ich mal 75 werde. Dass ich mich auch nicht so alt fühle, habe ich meinen Fans zu verdanken. Ohne sie hätten mich die Plattenfirmen längst rausgeschmissen. Es gibt tatsächlich Menschen, die es zu schätzen wissen, dass man bei sich selber bleibt. Deshalb möchte ich jetzt noch einmal auf Tournee gehen und danke sagen.

Und was kommt danach?
Ich ziehe mit dem Best-Of-Album ein gewisses Resümee. Und dann werde ich meine Autobiografie schreiben. Ich will wissen, ob ich auch das hinkriege. Mal gucken, was mir bis dahin musikalisch so in den Sinn gekommen ist. Man darf nicht vergessen, dass man in den Augen von vielen schon ein Fossil ist. Aber da kann man sich ein Ei drauf backen. Ich bin jetzt schon seit über 50 Jahren dabei und habe keinen Grund, mit mir unzufrieden zu sein.

Macht Kreativität glücklich?
Wenn man das, was man da tut, wirklich mag und sauber mit sich selbst ist, ist das eine echte Lebensbereicherung. Ich hatte unglaublich viel Glück im Leben. Damit möchte ich verantwortlich umgehen. Was soll ich sagen? Interessantes Schicksal!

Auf dem 1978 erschienenen Album „Regenballade“ vertonten Sie deutsche Lyrik wie Goethes „Zauberlehrling“ und Fontanes „Herr von Ribbeck“. Wie kam es zu dieser für die damalige Zeit ungewöhnlichen Liaison mit der deutschen kulturellen Vergangenheit?
AR & Machines ist eher zufällig entstanden. So was hat sonst gar keiner gemacht! Bis ich merkte, dass ich damit nicht wirklich weit komme. Das Land war noch gar nicht reif dafür. Nach fünf, sechs Alben habe ich es gut sein lassen. Englisch zu singen kam mir irgendwann wie Urkundenfälschung vor. Mir wurde klar: Wenn ich erwachsen werden will, kann ich nicht mit verderblicher Ware handeln. Ich habe schon in den 1960er Jahren gelernt: Wenn man hoch auf der Welle schwimmt, wollen so viele Leute etwas von einem. Das geht einem irgendwann mächtig auf den Keks. Es erscheinen Interviews, die man gar nicht gegeben hat. Egal, ob die Story stimmt, es verkauft sich gut.

Wo ist Ihnen das passiert?
In England. Damals dachte ich: „Ok, unser Englisch ist nicht allzu anspruchsvoll, da haben sie das Interview lieber gleich selbst geschrieben“. (lacht) Ich fühlte mich dann ganz wohl dabei, die Boulevardebene auszusparen. Ich wollte immer wegen meiner Musik gemocht werden und nicht, weil ich irgendeinen Scheiß gemacht habe. Man brauchte eigentlich nur einen Hit pro Jahrzehnt und dann haben einen die Plattenfirmen in Ruhe gelassen. Ich habe schon sehr früh damit angefangen, mich selbst zu produzieren und einen eigenen Musikverlag zu gründen. Bei mir wirkte sich eine mittlere Chartposition in der Summe sehr gut aus. Ich wurde für den Kram geboren, sonst wäre ich längst aus der Kurve geflogen.

Mit „Dat Shanty Alb’m" begann 1976 Ihre Deutschrock-Karriere. Wie haben Sie die Seemanslieder für sich entdeckt?
In den Hamburger Hafenkneipen. Ich weiß noch, wie ich zuhause saß und mir die Finger auf der Gitarre locker gemacht habe. Dabei ist ein Groove à la Chuck Berry entstanden, zu dem ich irgendwas dahergebrummelt habe. Es kam mir irgendwie bekannt vor. Ein Kollege meinte, das sei „Rollin‘ Home“. Das ist ja eigentlich ein Schunkel-Shanty im Dreivierteltakt, ich habe es aber als Vier-Viertel gespielt. Das war eine Fährte, da brannte eine Lunte.

Ist der ursprüngliche Shanty mit amerikanischem oder englischem Blues, Soul oder Folk verwandt?
Eigentlich sind Shanties Weltmusik. Die Schiffe sind durch verschiedener Länder Häfen gefahren. Und zu Segelschiffzeiten sang man noch bei der Arbeit. Auf diese Weise sind multinationale Song-Bauten entstanden. Das mit einem Groove von heute zu spielen, fand ich irre spannend. Die meisten Plattenfirmen meinten aber, ich sollte lieber etwas in Richtung Rattles oder Wonderland machen, statt ein Shantyalbum. Irgendwann wollte es aber doch eine haben – und es ging richtig gut ab.

Die norddeutsche Gruppe Santiano spielt heute einen ähnlichen Sound wie Sie 1975 – und wird sowohl vom Schlager- als auch vom Metalpublikum gefeiert. Gäbe es diese Band ohne Achim Reichel?
Pete Sage war zwölf Jahre mein Geiger. Wirklich ein super Musiker, ein englischer authentischer Folkfiddler. Er wurde gefragt, ob er bei Santiano mitspielen wolle und es stellte sich heraus, dass er ein Leitwolf ist. Pete hat schon für Ougenweide gespielt. Meine Frau hat so einen komischen Humor und bezeichnet Santiano immer als die Flippers der Shantymusik. (lacht) Aber das ist in Ordnung.

1963 tourten die Rattles mit den damals noch realtiv unbekannten Rolling Stones durch England.
Als wir damals mit den Stones, Little Richard und den Everly Brothers unterwegs waren, bekamen wir von Decca ein Angebot. Sie wollten für uns eine Villa anmieten und uns in England produzieren. Nur Reichel, der Idiot, war noch nicht mal 20 und schon verheiratet und hatte ein Kind. (lacht) Ich sagte Decca, wir könnten das nicht machen. Wir wurden vom Star Club gemanagt. Dem hatten wir es überhaupt zu verdanken, dass man uns in England reingelassen hat. Und dann begriffen wir bald, wie der Hase da drüben so läuft.

Wie kamen Die Rattles beim englischen Publikum an?
Wir kamen gut an. Die Engländer liebten unseren Slang. Da fingen sie an zu kreischen. Das darf man aber nicht als musikalisch schwergewichtig einordnen, aber es hätte was draus werden können. Wenn wir das getan hätten, wären wir schon in den 1980ern eine Band von gestern gewesen. Weil ich aber Entwicklung zugelassen habe, war überhaupt eine lange Karriere möglich. Wo sind heute die Searchers oder die Tremeloes? Das waren auch mal große Stars.

Sie begleiteten auch die Beatles auf Ihrer einzigen Deutschlandtournee 1966. Sind die Rattles an dieser Tour musikalisch gewachsen?
Der erste Gig war im Circus-Krone-Bau in München. Wir kannten die Beatles noch aus der Zeit, als sie eine Band von vielen waren. Auf St. Pauli haben wir sie im Kaiserkeller, im Indra, im Top Ten und im Star Club erlebt, wo sie Tony Sheridan begleiteten. Es waren nette Jungs, mit denen man über Rhythm’n‚Blues und Soul-Musik philosopieren konnte. Und dann wurden wir als ein Part ihres Vorprogramms für ihre Deutschlandtournee gebucht. Im Circus Krone stande wir an der Seite der Bühne und guckten, ob wir etwas dazulernen konnten. Die Beatles gingen auf die Bühne, stöpselten ihre Instrumente ein und fingen an zu spielen. Und wir gucken uns an und sagten: „Die Gitarren sind ja verstimmt!“ Da wurde uns klar, dass es wohl höhere Werte geben muss. Die machten da irgendwie den Wilden mit relativ verstimmen Gitarren – und das spielte dabei überhaupt keine Rolle! Das hat mich ein bisschen verunsichert, aber außer uns hat es gar keiner gemerkt. (lacht)

Und wie klangen die Beatles anfangs im Star Club?
Super! Handwerklich war diese Four-Piece-Band großartig aufeinander abgestimmt. Wie ein Organismus. Das konnte einen begeistern. Als sie irgendwann den ersten eigenen Song spielten – „Love Me Do“ mit Mundharmonika-Intro – , dachte ich: „Was ist denn das für eine komische Melodie? Das ist ja gar kein Rhythm’n‚Blues oder Rock’n‚Roll mehr.“ Ein paar Wochen später war es ein Hit!

Welchen Beatles-Auftritt werden Sie nie vergessen?
Wenn man überhaupt gar keine Ahnung davon hatte, dass das eine Band war, die ein Jahr später auf dem Weg zum Weltruhm war, dann guckte man da ganz normal hin. Man ist weit davon entfernt, das zu glorifizieren. Deutlich war, dass die Beatles einen unbändigen Spaß daran hatten, Rock’n‚Roll-Standards wie „Twist & Shout“ zu spielen – die wir mit den Rattles teilweise selber gespielt haben. Sie hatten einen ganz anderen Repertoire-Horizont. George Harrison zum Beispiel hatte auf der Gitarre Rockabilly-Sachen von Carl Perkins drauf. Die Beatles besaßen damals schon Charisma. Im Top Ten hingegen saßen sie in schwarzem Leder mit übergeschlagenen Beinen auf ihren Gitarrenverstärkern und begleiteten Tony Sheridan, der den Frontmann machte. Das war sehr cool. Wenn man mal überlegt, dass George Harrison anfangs, noch minderjährig war. Bewunderswert!

Achim Reichel auf Tour

Der Sänger geht mit seiner Band auf „75 Jahre – Das Beste zum Schluss“-Tour und gibt am 13. November um 20 Uhr ein Konzert im Hirsch in Nürnberg. Karten gibt es im Ticketshop unserer Zeitung.

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