Veranstaltungstipps Martin Kohlstedt: "Meine Musik ist zeitlos"

Das Gespräch führte Olaf Neumann
 Foto: Patrick Richter

Martin Kohlstedt ist ein Star der Neo-Klassik. Er mischt klassische und moderne Elemente zu einem experimentellen Sound mit Wellnesscharakter. Bald geht er auf Tour.

 
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Herr Kohlstedt, Sie haben Angebote von der Musikindustrie immer abgelehnt und stattdessen das Hauslabel Edition Kohlstedt gegründet. Jetzt beginnt für Sie eine neue Ära. Welche Vision hatten Sie von Ihrem Debüt bei einem Majorlabel?
Das große Denken fand auch schon in meinen kleinen Platten statt. Ich sehe da keine Dimensionsunterschiede. Mir war es wichtig, über die Solopianoalben ein eigenes Vokabular zu erschaffen. Und jetzt haben wir das Glück, mit dem philharmonischen GewandhausChor zusammenarbeiten zu dürfen. Und auf einmal wird aus der einen Person auf der Bühne mit seinen sieben Label-Angestellten eine siebzigköpfige Truppe. Die Freiheit dieses Projekts muss durch eine Majorcompany gestützt werden. Ich könnte das nicht mit meinem eigenen Label schaffen. Uns ist es gelungen, unsere Attitüde in Warner Classics einzubetten. Das ist etwas anderes als übernommen zu werden.

Das Album „Ströme“ baut auf dem Vorgänger „Strom“ auf. Zieht sich durch Ihr gesamtes Schaffen ein roter Faden?
Ich habe eine große Symmetriesucht. „Tag“, „Nacht“ und „Strom“ habe ich alleine zuhause erstellt, indem ich an mir herumgebohrt habe. Jeweils durch Remixe, Reworks oder durch Gregor Meyer und seinen GewandhausChor habe ich einen Spiegel gefunden, in dem die eigenen Stücke wieder stattfinden. Wenn auf einmal 70 Stimmen auf einen Ton von mir einsetzen, hat das eine ganz andere Stärke. Durch das Improvisieren kommt man nicht umhin, das auch neue Kompositionen entstehen.

Wie hat Ihnen der Gewandhaus Chor dabei geholfen, Ihre Musik weiterzuentwickeln?
Er hat mir dabei geholfen, meine Musik überhaupt zu sehen und zu hören. Es ist sehr schwer, sich selbst zu sehen und mit sich selbst ins Gespräch zu kommen, wenn man im Klavier versinkt. Der Chor hebt mich auf eine andere Ebene, so dass es mir selbst möglich ist, diesen Stücken zuzuhören. Ich kann sie bei den Live-Konzerten nach links und rechts lenken, verlangsamen, verstärken, die Tonart verändern. Diese Variablen an der Formel müssen offen bleiben.

Ist jedes Konzert mit dem Chor anders?
Genau. Da wir uns noch in den Anfängen befinden, gibt es viele Inseln, an denen wir uns entlanghangeln. Von einer 100prozentigen Improvisation kann nie die Rede sein, weil man mit 60 Menschen gewissen Strukturen folgen muss. Aber wir beziehen auf der Bühne das Scheitern mit ein. Aus diesem Potenzial heraus entstehen viele neue Sachen. Nicht mal die Chormitglieder erhalten Noten, sondern sie müssen auf sich achten und konzentriert mit dem Chorleiter Gregor Meyer in Kontakt treten. Sie müssen ganz intuitiv vorgehen, damit Töne entstehen.

Musste der Chor das Improvisieren erst noch lernen?
Ja, ein Stück weit. Gestern haben wir ein Experiment gemacht: Alle 60 Sängerinnen und Sänger starteten mit einem Ton ihrer Wahl und sollten sich dann auf einen bestimmten Ton einigen. Schon nach fünf Sekunden hat sich der Ton geeicht – aus dem Bauch heraus. Diese Freiheit muss die Musik wieder bekommen.

War der Chor von Anfang an bereit für diese Arbeitsweise?
Unsicher ist niemand mehr gern. Das merkte man schnell. Da gab es schon den einen oder anderen, der dieses Projekt verlassen musste, weil es ihm zu krass war. Das war natürlich schade, weil aufgrund dieser Unsicherheiten auf einmal Refrains herauskamen, die alle widergeben und hören konnten. Aus dem Handwerk wurde auf einmal ein Musizieren. In dem Moment, wo man etwas aus seinem Unterbewusstsein herauslaufen lässt, wird es schlagartig zu Kunst. Das ist gar nicht schlimm in einem klassischen Chor, der es gewohnt ist, perfekt zu sein. Bei meinem Auftritt in der Elbphilharmonie habe ich bei einem Stück einfach angehalten. In dem Moment ging ein erschütterndes Raunen durch den Saal. Für jeden Klassiker wäre dann die Karriere gescheitert, aber es ist schön, da wieder zu graben, denn früher gab es in der Klassik auch Fantasie, Prügeleien im Publikum und Gruppensex als Hauptthema in den Songs. Das hat sich leider alles abgestumpft, so dass die wirkliche Freiheit nicht mehr zu finden ist.

Wollen Sie mit dem Gewandhaus Chor Musik machen, die sich anfühlt wie Gruppensex?
Emotionale Wallungen sind da schon vorhanden, aber Gruppensex versuchen wir zu vermeiden.

Welche Kompromisse mussten Sie gegenüber dem Gewandhaus Chor eingehen?
Ich würde es nicht als Kompromisse bezeichnen. Wir haben in der Formel, die wir für uns gefunden haben, offene Variablen festgelegt. Wir mussten von Anfang an einen Konsens finden. Man muss langsame Schritte finden und das Wohlbefinden der gesamten Masse von Menschen auf der Bühne aufrecht erhalten. Und dann kann man immer mehr wegnehmen. Zum Beispiel die Noten. Und in den Proben haben wir am Ende fast gar nicht mehr gesprochen, weil wir uns gegenseitig vertrauen. Das funktioniert mit dieser Familie, weil sie seit über zwei Jahren diesen Weg mit uns geht. Chorleiter Gregor Meyer hat für das Projekt eigene Handzeichen entwickelt, eine Art emotionales Dirigieren. Das Ziel ist, die Entscheidungen an ein Chormitglied zu übertragen.

Sie sind Autodidakt. Gab es anfangs Ressentiments gegen Sie?
Das Schöne an dem Projekt ist der stetige Diskurs. Ich hatte ein paar gute kühle Biere mit den eingefleischten Klassikern vor Ort. Nach drei Stunden haben wir den Tisch verlassen und uns umarmt. Das Ziel ist, sich ganz langsam an eine Sache heranzutasten, wie sie vielleicht einmal war. Die Leute glauben immer, dass man Konzepte entwickelt, um damit erfolgreich zu werden. Was aber, wenn der Erfolg dadurch kommt, dass man es schon immer so gemacht hat? Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Konzepte. Wir spielen mit großen Synthesizern in Kirchen, gleichzeitig reißen wir die Elbphilharmonie mit lauten Bässen ein. Und ich spiele auf Technofestivals einfach Soloklavier, um alles zu verbinden und herauszufordern. Da sind viele Widersprüche.

Warum nehmen Sie bei all Ihrer Freiheitsliebe überhaupt ein Album auf?
Wie soll intuitiv improvisierte Musik auf ein Album gelangen? Es ist extrem wichtig, ein Spiegelbild von dem, was man da gemacht hat, aufzubauen und es mit zurück in die Probe zu nehmen. Wie ein Fotoalbum. Bei der Generalprobe mit dem GewandhausChor herrschten eine seltsam selige Euphorie und extreme Müdigkeit, weil das Ganze ein Konzentrationsspektakel ist. Andere Chöre lernen alles auswendig und singen mit einem starren Blick geradeaus, aber beim uns herrscht eine nach vorn gebeugte Fixierung auf Gregors Finger. Und die Reaktion des Publikums macht die Sache dann ernst.

Planen Sie nach Ihrer Tour weitere Gastspiele mit dem Gewandhaus Chor?
Der Chor ist zu einigem bereit und es wird weitergehen. Aber das Projekt darf nicht unter Erfolgsdruck laufen, sonst kommt in diese hauchdünne Sache eine Unsicherheit rein.

Warum treten Sie mit dem Chor nicht in der Elbphilharmonie auf?
Wir haben uns grundlegend für die Laeiszhalle entschieden, eine klassische Halle. Aber wir brechen diesen Raum wieder. Wir spielen ganz bewusst in altbewährten klassischen Hallen mit ihren quadratischen Flächen und prunkvollen Säulen. In der Elbphilharmonie kamen auch Leute zu mir wegen dieses Ortes. Das setzt einen unter Druck. Aber wir haben uns ziemlich schnell gefunden und die Elbphilharmonie wurde zu einem Wohnzimmer. Ich kann mich nicht nackt machen, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass alle im Raum bereit sind, diesen Weg mitzugehen.

Wie hat Ihre Musik in der Elbphilharmonie geklungen?
In der Elbphilharmionie wird meine Musik epischer, schwerfälliger und größer. Meine kleinen Gefühle werden dort haushoch. Das ist schon absurd.

2017 spielten Sie in Teheran im berühmten Talar-e Rudaki-Opernhaus. Wie klingt Ihre Musik dort?
In Teheran ist die Grundvoraussetzung eine ganz andere: Dort wird aus Respekt erst nach dem Konzert geklatscht. Die Komposition steht über allem. Aber das Schöne ist: Wenn man dort salopp mit seinen Gefühlen umgeht und ihnen freien Lauf lässt, gibt es doch Zwischenapplaus – und sogar Tränen. Selbst in solchen Häusern kann man die steinernen Normen brechen. Ich lege das aber nicht als persönliches Ziel fest.

Konnten Sie sich im Iran frei bewegen?
Wir haben uns frei durch Teheran bewegt. Die Iraner sind sehr offen. Die persische Kultur sollte mit der Kultur der radikalen Länder drumherum nicht in einen Topf geworfen werden.

Sie gehen dieses Jahr auch wieder auf Solotournee. Lassen Sie sich dabei ab und zu von musikalischen Gästen begleiten?
Nein. Es ist wichtig, dass die ganze Zeit eine Verhandlung mit mir selbst stattfindet. Die Solotermine sind zwischen all die Chortermine geballert, weil ein Auftritt in einem 80-Mann-Bunker in Bielefeld ganz wichtig ist für das Rekapitulieren der ganzen Sache – und zwar an der Stelle, wo es herkommt. Die Solotour hält alles zusammen. Es ist und bleibt eine Suche.

Wie viele Ihrer modularen Kompositionen können Sie auswendig spielen?
Worte wie proben, üben und auswendig lernen passen da nicht hin. Die Kompositionen sind einfach da. Es ist wie Sprechen. Sie sind zwar kindlich-naiv entstanden, aber durch das Loopen, Übereinanderlagen und den Chor können sie irre Dimensionen annehmen. Obwohl der Grundgedanke ein ganz kleines Gefühl war.

Wie erklären Sie sich, dass Ihre kompromisslose Musik so ein großes Publikum erreicht?
Wir erforschen jeden Tag einmal im Tourbus, woran es liegt, dass so viele Menschen nach einem Konzert dankbar verändert an den Merchandising-Tisch kommen und von mir eine Umarmung möchten. Es geht dabei um einen ganz bestimmten Prozess des Öffnens. Im großen Musikbusiness werden die Begriffe „ehrlich“ und „authentisch“ schwer missbraucht. Aber wenn man da oben nackt und unsicher ist, erkennt das jeder sofort. Wenn man Stücke spielt, die zittrig beginnen, entsteht eine ganz neue Dimension. Der Typ auf der Bühne liefert kein Unterhaltungsprogramm, sondern bewegt sich auf Augenhöhe mit dem Publikum. Das Konzert wird zu einer Zeremonie. Manche machen Yoga, um diesen seligen Zustand zu erreichen.

Was braucht es, damit Ihre Musik wachsen und reifen kann?
Vertrauen. Ohne Vertrauen kann ich nicht auf den Pfad der Unsicherheit gehen, sonst wird sie sofort entwertet. Es ist wichtig, dass es am Anfang eines Konzertes Offenheit gibt und spätesten nach 15 Minuten kann die Musik irre Punkte erreichen. Auf großen elektronischen Festivals fangen manchmal 3000 Menschen an, sich zu meinen Klängen zu bewegen, weil sie sich für den Moment geöffnet haben. Durch dieses Meditative passiert etwas im Unterbewusstsein, das jeder von uns braucht. Die Gefahr an dem Projekt ist, dass sich durch Umwerbung und PR ein Publikum der Weinschwenker dazugesellt, das nur darüber redet, von was diese Musik abgeleitet ist. Die linke Gehirnhälfte hat bei diesem Projekt aber nichts zu suchen.

Wer ist daran Schuld, dass elektronische Musik heutzutage so angesagt ist?
In der elektronischen Musik wird Remixkultur betrieben, wird weitergegeben, kommuniziert, geehrt und vermixt. Die Stücke auf der Bühne sind mindestens doppelt so lang wie auf einem Album, weil es das braucht. Man muss spüren, wo einen die Musik hinführt.

Der Band Kraftwerk wurde in den 1970er Jahren nachgesagt, die Musik der Zukunft zu machen. Ist das heute auch Ihr Ziel?
Ich glaube, dass meine Musik zeitlos ist. Aber wenn man sie einmal aus der Zukunft heraus rückwirkend betrachtet, wirkt sie vielleicht doch wie Musik von dieser Zeit. Ich glaube, dieses Projekt ist keine Musik für die Zukunft, sondern für den absoluten Moment. Ich hoffe, dass in der Musik wieder Dinge einfach so passieren. Die nächste Generation der Kinder muss sich auf was gefasst machen. Für meine Generation gab es noch Hierarchien. Meine Eltern haben noch die DDR-Erziehung genossen, wo es keine eigenen Entscheidungen gab. In einer offenen Gesellschaft muss aber mehr Improvisation, Kommunikation und Diskurs stattfinden.

Martin Kohlstedt auf Tour

Der Pianist und Komponist gibt am 6. November um 20 Uhr ein Konzert in der Hugenottenkirche in Erlangen. Karten dafür gibt es im Ticketshop unserer Zeitung.

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